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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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einmischen. Ihre Aufgabe war es, den Verlust des Vaters zu erleiden und zu begreifen, daß sie
     ihn schon vor ihrer Geburt verloren hatte. Ihre Kindheit war eine Lüge gewesen, jedes freundliche Wort, jeder Abend auf Vaters
     Knien, jede Puppe, die er ihr aus Stroh gebunden hatte.
    Sie erreichte das Haus. Die Knechte und Mägde hatte sie entlassen müssen, aber das Haus war erhalten geblieben. Sie hatte
     es einem Ratsherren geschenkt, bevor die Inquisition es einfordern konnte, und aus Dankbarkeit ließ er sie noch ein wenig
     darin wohnen. Jeden Tag konnte es geschehen, daß er sie hinauswarf, weil er einen Käufer gefunden hatte. Dennoch, die Entscheidung
     war richtig gewesen. Einem Ratsherren konnte die Inquisition das Haus nicht streitig machen.
    Mit dem Schlüssel in der Hand näherte sie sich der Eingangstür. Sie stutzte. Das Vorhängeschloß fehlte. Hatte der Ratsherr
     es von einem Schmied aufbrechen lassen? Wollte er sie so bald schon loswerden? Sie ballte die Fäuste. Das waren seine gütigen
     Worte also wert gewesen. Allein um das Geld war es ihm gegangen. Wohin sollte sie nun gehen?
    |96| Sie trat ein. Es war still im Haus. Sie sah in den Wohnstuben, Schlafkammern, Gesinderäumen nach – alles war an seinem Platz.
     Als sie die Küchentür öffnete, schrak sie zusammen. Jemand saß am Tisch und hielt das Gesicht in den Händen. »Mutter?«
    Die Mutter sah auf. Ihre Augen waren verquollen. »Ist er …?«
    »Tot? Nein. Er ist im Kerker.«
    »Er lebt?«
    »Ich würde sagen, er hängt zwischen Tod und Leben.«
    »Du hast ihn also besucht.«
    Mathilde nickte. »Er hat uns angelogen, Mutter. Es ist alles wahr, die Morde, die Ketzerei.«
    »Ich weiß.«
    »Vater ist gar kein Kaufmann. Er ist ein Betrüger. Ein Halsabschneider.«
    »Das stimmt nicht, Mathilde. Er ist rechtschaffen geworden vor vielen Jahren.«
    »Wie willst du das wissen? Verstehst du nicht, daß er ein Lügner ist, wie es keinen zweiten auf der Welt gibt? Du willst doch
     nur nicht einsehen, daß du einen Mann geliebt hast, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt.«
    »Ich kenne deinen Vater, Mathilde.«
    »Ach? Wenn du alles wußtest, warum bist du dann fortgegangen? Warum warst du dann wütend auf ihn?«
    Die Mutter schloß die Augen und preßte die Lippen fest aufeinander. Sie schüttelte den Kopf. Sie legte wieder die Hände vor
     das Gesicht.
     
    Er drückte das Bündel mit Brot und Käse an sich und seufzte vor Glück. Ohne es fortzulegen, hob er den Krug an den Mund und
     trank mit großer Vorsicht einige Schluck Milch, als fürchte er, etwas zu verschütten. Er leckte sich die Lippen. »Adeline
     schickt dich? Sie ist zurück?«
    »Mutter hat mich gebeten, dir etwas zu essen zu bringen.« Er ließ den Krug sinken, sah an ihr vorbei. »Sie selbst wollte nicht
     kommen.«
    |97| »Es tut mir leid.« Mathilde zog das Wachstäfelchen und den Griffel hervor. Sie leuchtete ihm mit der Fackel, während er las:
Wir werden belauscht.
    Er hielt das Täfelchen nahe an die Flamme, wartete, bis die Oberfläche zerlaufen war, dann schrieb er:
Ich weiß.
    »Aber es ist gut, daß du hier bist«, sagte er. »Vielleicht kannst du ihr erklären, warum ich so gehandelt habe, wie ich es
     getan habe.« Er schrieb:
Hilfst du mir zu fliehen?
    Sie sah ihn an.
    Er hielt ihren Blick. Dann nickte er langsam. Er begriff wohl, daß er sie nicht überzeugt hatte bisher, im Gegenteil. Leise
     sagte er: »Hörst du mir noch einmal zu? Ich will es dir erklären.«
    »Was gibt es da zu erklären? Du hast Amiel deine Dienste angeboten. Den Hausrat, von dem du erzählt hast – du hast ihn für
     ihn gekauft, nicht wahr? Damit ihr eure geheime Wohnung beziehen konntet, euer Mördernest.«
    »Du darfst nicht vergessen, daß ich Amiel von Ax für einen Dieb hielt. Ich wollte ihm auf die Schliche kommen und in Erfahrung
     bringen, was er über meine Eltern wußte.«
    »Also? Was hast du getan?«
    »Versprichst du mir, daß du mir bis zu Ende zuhörst?«
    »Du verstehst das nicht, oder? Es ist eine Folter für mich, dir zuzuhören. Mit jedem Wort raubst du mir ein Stück des Vaters,
     den ich –« Sie stockte. Den ich geliebt habe, hatte sie sagen wollen.
    »Doch, das verstehe ich. Und es dauert mich sehr. Ich muß dich trotzdem bitten, mir zuzuhören. Vielleicht kann ich dir auch
     etwas geben. Einen anderen Vater. Und den Mann, der ich wirklich bin.«

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    Winter 1336
    Diesmal war es kein Geld, das er stehlen wollte. Diesmal ging es um Wissen. Amiel von

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