Das Mysterium: Roman
Geschrei herüber. Vizenz ging die Wand des Zollhauses entlang bis zur Ecke und spähte aus. Menschen
sammelten sich an der Brüstung der Brücke und gafften hinunter auf den Fluß. Hatte ein Floß die Brücke gerammt? Es würde mitsamt
seinen Waren dem Zöllner verfallen; es sei denn, ein Münchner war der Flößer, dann hatte er nur für die Reparaturen an der
Brücke aufzukommen. In jedem Fall gab es Streit und Aufsehen. Sehr gut. Das würde den Hauptmann ablenken.
Er faßte die Baustelle am anderen Ufer ins Auge. Zwischen den Holzgerüsten würde er hervortreten, dort, wo man den Mauerring
durch ein gewaltiges, neues Tor abschloß. Das Hämmern der Steinmetze dröhnte herüber. Flaschenzüge knarrten. Der Baumeister
brüllte knappe Befehle.
Er hatte den Ort gut ausgewählt. War er einmal auf der Brücke, blieb dem Hauptmann keine Fluchtmöglichkeit. Die Isarbrücke
spannte sich hoch über die Insel, die den Fluß in zwei Arme teilte. Sieben Pfahlpaare, darüber Deckbretter, die kaum mehr
als vier Schritt in die Breite reichten, dazu die hohe Brüstung: diese Brücke war eine Falle. Hinter Ermenrich würden |213| die Büttel drohen, vor ihm die Armbrustschützen. Er mußte sich ergeben.
Vorausgesetzt, man hatte ihn nicht gewarnt. Fünfundvierzig
Sagitarii
standen im Sold Münchens. Vizenz hatte unmöglich alle mitnehmen können, hinter dem kleinen Zollhaus hätten sie niemals Platz
gefunden, und es wäre übertrieben gewesen, für einen einzelnen, wenn auch gefährlichen Mann so viele Schützen aufzubieten.
Was, wenn einer der Zurückgebliebenen ihn gewarnt hatte? Er konnte nur hoffen, daß die Schützen genug Respekt vor der Inquisition
der Kirche besaßen.
Der Zöllner trat auf die Brücke und lieferte sich über die Brüstung hinweg ein Wortgefecht mit dem Flößer, der offenbar nicht
einsah, daß er seiner Ware und seines Floßes verlustig gegangen war. Wenn Ermenrich jetzt kam, konnte es besser nicht passen,
er würde glauben, man habe ihn wegen des Unfalls gerufen.
Da! Er passierte die Baustelle. Ich danke dir, Gott! dachte Vizenz. Er warf nach hinten: »Macht Euch bereit!« Die Schützen
legten Bolzen ein und hoben die Armbrüste. Er spähte wieder nach vorn.
Ermenrich betrat die Brücke. Offenbar begriff er sofort, was vorgefallen war. Er schob einige Leute beiseite und trat an die
Brüstung heran. »Fremder!« sagte der Hauptmann. »Fahrt Euer Floß ans Ufer! Wir haben Gesetze in dieser Stadt, an die Ihr Euch
zu halten habt. Wollt Ihr, daß ich Euch in Ketten legen lasse?«
»Jetzt«, sagte Vizenz. Er trat hinter dem Zollhaus hervor. Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, daß die Armbrustschützen
hinter ihm Stellung bezogen. Von der Baustelle her kamen die Büttel und postierten sich mit blanken Schwertern am gegenüberliegenden
Brückenkopf.
Ermenrich rief zum Wasser hinunter: »So ist es recht.« Er sah auf. Sein Körper straffte sich. »Vizenz?«
Das Volk, das sich auf der Brücke befand, heulte. Männer und Frauen duckten sich und hielten die Hände über den Kopf. Als
würden Knochen und Fleisch vor einem Armbrustbolzen |214| schützen! Ermenrich blieb als einziger stehen. Er hielt sein schwarzbärtiges Gesicht stolz erhoben. »Was tut Ihr hier?« fragte
er.
»Ich, Vizenz Paulstorffer, Inquisitor der Stadt München, mache hiermit Gebrauch von meiner päpstlichen Vollmacht zur Verfolgung
und Verurteilung von Ketzern. Ihr wurdet von verläßlichen Zeugen der Ketzerei beschuldigt. Ich fordere Euch auf, mich zum
Verhör zu begleiten.«
»Nach Jahren der besten Zusammenarbeit wagt Ihr es?« Die dunklen Augen des Hauptmanns funkelten vor Zorn.
»Ich rate Euch, überlegt weise, was Ihr tut.«
Die Bauleute starrten von den Gerüsten. Die Salzwache starrte, die Flößer blickten von ihren Gefährten herauf. Es war still,
an einem Platz, an dem es sonst niemals ruhig war. Ermenrich war öffentlich bloßgestellt. Er würde gegen Amiel aussagen, er
mußte! Anders konnte er sich nicht mehr aus der Schlinge ziehen.
Du hast mich verraten, dachte Vizenz. Du hast mich an den Franzosen verraten. Nun trage die Folgen, Ermenrich.
Der Hauptmann hob die Arme zum Schwertgurt. Die Schützen richteten die Armbrüste aus, Vizenz konnte es an den langgestreckten
Schatten sehen, die vor ihm auf den Boden fielen. Ermenrich würde sich doch nicht in den sicheren Tod stürzen, indem er sie
angriff?
Der Hauptmann löste den Gurt. Das Schwert schlug dumpf auf
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