Das Nazaret-Projekt
machen, an die Sie sich unbedingt halten sollten! Es ist nicht gestattet, die Heilige Jungfrau ungebührlich anzustarren oder sie ohne Aufforderung anzusprechen! Es ist nicht gestattet, sich der Jungfrau zu nähern oder gar zu versuchen, sie zu berühren! Glauben Sie uns, der Zorn des Herrn würde Sie auf der Stelle töten! Im vorderen Teil des Raumes steht eine kleine Gebetsbank, zu der Sie sich bitte gesenkten Hauptes und Blickes begeben, um darin niederzuknien. Beten Sie unablässig das ›Ave Maria‹! Wenn Ihre Gebete aufrichtig sind und Ihr Herz gläubig, wird sich Ihnen das Lamm Gottes schließlich in all seiner Pracht und Herrlichkeit offenbaren! Gepriesen sei Gott, der Allmächtige, und gesegnet jene, die in seine Dienste treten!«
Reverend Telly ›The Truth‹ Suntide fühlte sich außerstande zu sprechen; seine Mundhöhle war unvermittelt trockengefallen wie ein Wadi in der sommerlichen Wüste Juda. Sein Organismus wurde zudem von einer ziemlich heftigen Adrenalinflut überschwemmt, die selbst ein Kopfnicken zu einem komplizierten, feinmotorischen Akt werden ließ – und damit zu einem Problem. Eine analoge, fließende Bewegung war unmöglich; sie konnte nur mehr in kleinen, digitalen Stufen ausgeführt werden, also entsprechend den Zuständen ›An und Aus‹ oder ›Eins und Null‹. Telly nickte infolgedessen zum Einverständnis eher wie ein bedauernswerter Parkinsonpatient denn wie ein würdevoller Prediger und Hoherpriester der Wahrheitsloge.
Die Nonnen bekreuzigten sich und öffneten beide Türflügel. Der dahinterliegende Raum lag im Halbdunkel. Nur spärlich erhellt vom Lichte zweier Kerzen, erkannte Telly an der hinteren Wand des Gewölbes einen hohen Stuhl, auf dem ein kleines, rotes Sitzkissen lag. Der Boden und auch die Wände waren bedeckt mit zahlreichen kostbaren Teppichen und Stoffen, und nur wenige Schritte entfernt stand in der Mitte der Betstuhl, seltsam verschnörkelt und sprungbereit hingekauert wie ein rätselhaftes Lebewesen aus einer fremden Galaxis.
Die Nonnen, die den Raum ebenfalls betreten hatten, schlossen leise die schwere Türe hinter Tellys Rücken und postierten sich unauffällig links und rechts an den Wänden, fast in Höhe des Betstuhles, in dem sich ihr Schützling gehorsam mit gesenktem Haupte niedergekniet hatte. Telly begann leise mit der Rezitation des ›Ave Maria‹, obwohl es ihm zunächst sehr schwer fiel, seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Gebet zu konzentrieren.
»Ave Maria, voll der Gnade, du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesu …«
Die ständige Wiederholung und der vertraute Klang und Rhythmus dieses Mantras verfehlte jedoch nicht seine beruhigende Wirkung. Hochwürden Suntide ergab sich schließlich ganz ihrem stetigen Fluss und dem Flehen seines Herzens, das sich seinem Empfinden nach nun ganz offen danach sehnte, von Gott erkannt zu werden. Dass dieses spirituelle Herz im Wesentlichen nur aus einer besonders kunstvoll kultivierten Form seines Egos bestand, konnte der überzeugten Inbrunst seiner Gebete verständlicherweise keinerlei Abbruch tun.
Die Zeit war längst zu einer bedeutungslosen Größe geschrumpft, als der Prediger plötzlich einen schwachen Luftzug auf seinem Gesicht zu verspüren glaubte. Er hob seinen Kopf und öffnete die Augen. Vor ihm, auf dem Stuhl zwischen den beiden massiven, dreibeinigen Kerzenständern saß nun eine schmale, weiß verhüllte Gestalt. Als diese Tellys Aufmerksamkeit bemerkte, hob sie das Haupt und entfernte langsam und mit beiden Händen den Schleier vor ihrem Gesicht.
Mit fassungslosem Staunen und Entzücken erblickte der Prediger die Majestät der Ewigkeit in den großen, hellblauen und weit geöffneten Augen der gesegneten Jungfrau; die Intensität dieses Blickes war schier unbeschreiblich, seine Kraft so groß, dass er die physischen Gesichtszüge der Auserwählten geradezu überstrahlte und es unmöglich machte, ihr wahres Äußeres zu erfassen. Bevor Telly jedoch die Augen abwenden konnte, um von diesem magischen Blick nicht vorzeitig zu einem Häufchen Asche verbrannt zu werden, begann sein Schädel plötzlich zu dröhnen wie eine geborstene Kirchenglocke.
Dann geschah erneut das Wunder der Offenbarung und damit endlich die lang erflehte, göttliche Erhöhung des Reverend Telly Suntide zum Zeugen und Propheten des Herrn Jesus Christus.
Hinter seinem Kopf erscholl mit einem Mal eine gewaltige, durchdringende Stimme mit dem Klang einer
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