Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Nazaret-Projekt

Das Nazaret-Projekt

Titel: Das Nazaret-Projekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Hanf
Vom Netzwerk:
fachmännisch mit den Fingern die Qualität des schmiedeeisernen Gitters genauer untersucht hatte, richtete sich grinsend auf und intonierte eine bekannte Verszeile: »Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare! Der Herr wird sicher seine Freude an Eurem Ordnungssinn haben! Ich würde außerdem empfehlen, strikt darauf zu achten, dass die Niederschrift des Neuen Testamentes noch zu Lebzeiten des Meisters begonnen und auch vollendet wird. Man sollte ausschließen, dass erst wieder Generationen später eine Heilige Schrift vom Hörensagen zurechtgekritzelt wird und die wahre Botschaft auf dem altbekannten Jahrmarkt der Eitelkeiten erneut zerstückelt und verramscht wird! Dann wären vielleicht in Zukunft sogar solche Burschen wie ich völlig überflüssig!«
    »Letzteres wäre in der Tat eine ziemlich erfreuliche Aussicht«, entgegnete Nathan trocken und unerwartet schlagfertig, »und außerdem scheint mir, dass unser hochgeschätzter Guru Hieronymus ein wenig hinter dem Mond lebt! Wir befinden uns schon länger im digitalen Zeitalter, in dem alles, was der Erlöser an Botschaften für die Menschheit bereithalten mag, lückenlos in Bild und Ton festgehalten und weiter verbreitet werden wird – wenn Sie so wollen, für die Ewigkeit. Wer wird da noch einen Gedanken daran verschwenden, mühsam eine neue Bibel zu verfassen?«
    Meyrink kicherte wie ein schwer bekiffter, indischer Guru. »Oh, ich denke schon, dass sich jemand für diesen Job finden wird. Es war noch immer ein verlockendes Geschäft für ideen- oder arbeitslose Schriftsteller, das berühmte ›Buch zum Film‹ nachzuliefern!«
    Nathan warf anstelle einer Antwort einen schnellen, prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und runzelte besorgt die Stirn. »Meine Brüder, die Pflicht ruft! Ich habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen und muss Sie deshalb nun leider verlassen. Hieronymus hat mir versprochen, sich um Sie zu kümmern, Mr. Suntide. Falls man Sie zu Schwester Marie-Claire heute überhaupt noch vorlässt, wird er hier auf Ihre Rückkehr warten und Sie zurück zum Wohndeck begleiten. Möge Gott Sie segnen und Ihren Geist öffnen! Guten Abend!«
    Als sich die Türe des Aufzugs hinter Nathan Brock geschlossen hatte, wurde Meyrinks heiteres Gesicht unvermittelt ernst. Seine gütigen Augen nahmen einen eigenartigen Ausdruck an, sie wirkten irgendwie gläsern und erinnerten an den schwimmenden Blick eines Alkoholikers oder den eines Mannes, der nur unvollkommen seine Tränen zurückhalten kann. Telly wurde nicht ganz schlau aus diesem Mann. Was könnte wohl seine Aufgabe oder Funktion in Brocks Spezialisten-Team sein? Psychologische Betreuung? Interner Geheimdienst? Der Weise von Zion? Hofnarr?
    Telly ertrug nur mit Unbehagen diesen eigenartigen, feuchten und wissenden Blick. Hieronymus Meyrinck schien sich einzig und allein auf seinen Atem zu konzentrieren; Seine Brust hob und senkte sich in betonter Gleichmäßigkeit der einzelnen Atemzüge. Der Prediger hatte eigentlich erwartet, von dem sicherlich erfahrenen Älteren noch so etwas wie einen guten Rat oder Hinweis zu erhalten, vielleicht sogar eine Erklärung oder Beschreibung dessen, was ihn vermutlich in Kürze erwarten würde.
    Nichts dergleichen, und doch geschah in diesem Augenblick etwas, das der Prediger weder fassen noch benennen konnte. Am ehesten glich es vielleicht der Ahnung und dem Geschmack jenes Gefühls oder Zustandes, den er erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal erfahren hatte; jener kostbare Moment schonungsloser Selbsterkenntnis und die daraus erwachsene Empfindung tiefer Reue und Demut, die ihn aus heiterem Himmel in der Bibliothek überwältigt und auf die Knie geworfen hatten.
    Hieronymus brach schließlich das eigentümliche Schweigen: »Nun, verehrter Reverend, wie fühlen Sie sich?«
    »Hmm, wenn ich ehrlich sein soll, nicht so besonders. Ich habe seit einer Viertelstunde ordentliche Kopfschmerzen, aber ganz anders als sonst, nicht hinter den Schläfen, sondern irgendwo in der Gegend der Hypophyse. Sehr unangenehm!«
    »Ach ja? Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Hieronymus mit leisem Sarkasmus und verfiel wieder in konzentriertes Schweigen. Noch während Telly über dieser kryptischen Antwort rätselte, erschienen am Ende des Ganges zwei weiß gekleidete Nonnen. Hieronymus atmete lang und hörbar aus.
    »Hier kommt Ihre offizielle Eskorte. Jetzt wird es ernst, mein junger Freund und Ritter der Kokosnuss! Enttäuschen Sie mich bitte nicht!«
    Telly fühlte sich

Weitere Kostenlose Bücher