Das Nazaret-Projekt
die dafür vorgesehenen Öffnungen. Um es drastisch auszudrücken: das Kerlchen pinkelte beinahe so stetig wie ein undichter Gartenschlauch und schiss unentwegt wie ein Reiher mit Fischvergiftung. Da keine noch so voluminöse Windel dem stetigen Andrang der Ausscheidungen länger als fünf Minuten hätte standhalten können, war aus diesem zwingenden Grunde einer der Paladine dazu verdonnert worden, ständig mit einem großen Plastikeimer in der Hand neben der Jungfrau einher zu gehen und diesen möglichst dicht unter das nackte Hinterteil des monströsen Kindes zu halten, das innerhalb weniger Tage bereits dem Säuglingsalter entwachsen war.
Dieser Anblick zerstörte nicht nur den letzten Funken des Zweifels und damit das schlechte Gewissen des Predigers Telly Suntide; er löschte vor allem gründlich und nachhaltig sämtliche noch vorhandenen Prägungen durch religiöse Konzepte und Erwartungen in dessen Psyche und beseitigte damit das nach dem Ego zweitgrößte Hindernis für eine tief greifende, psychologische und spirituelle Transformation, deren Prozess infolge des allgültigen Oktavgesetzes von diesem Punkte an nun für eine gewisse Zeit automatisch voranschreiten würde.
Etwa zehn Minuten später legte die ›Archenoah‹ endgültig von der Insel ab und nahm direkten Kurs auf Stockholm. Telly verfolgte die Abfahrt des Schiffes und verspürte zum ersten Mal den dringenden Wunsch, die Station ›Nazaret‹ so schnell wie möglich zu verlassen. Da Hieronymus leider schon am Abend vorher angekündigt hatte, den ganzen folgenden Tag in ungestörter Klausur verbringen zu wollen, würde Telly nichts anderes übrig bleiben, als seine Beobachtung und Eindrücke erst einmal für sich zu behalten.
Ziellos durchstreifte er deshalb die verschiedenen Decks der stählernen Insel, in deren Umbau und Ausstattung Nathan Brock offensichtlich eine enorme Summe Geldes investiert hatte, die in ihrer Höhe vermutlich dem halben Bruttosozialprodukt Estlands entsprach.
Wie auf jedem großen Schiff, so gab es auch auf ›Nazaret‹ eine mit Elektronik vollgestopfte Kommunikationszentrale, von der aus unter anderem routinemäßig eine Radarüberwachung des Meeresraumes in einem Radius von etwa zehn Seemeilen um die Station aus Sicherheitsgründen durchgeführt wurde. Das unterste Deck der Insel war ausschließlich dem Fernsehstudio und versorgungstechnischen Installationen vorbehalten, die von Technikern betreut wurden. Nur der Betrieb dieser Funkbude oblag ausschließlich Jablonsky und seinen Spezialisten und gewöhnlich war die Station rund um die Uhr mit einem seiner Männer besetzt.
Als Telly die Flure dieses Decks entlangbummelte, bemerkte er, dass die Tür zu dem Funkraum offen stand. Neugierig betrat er den Raum und sah, dass zufällig niemand anwesend war. Der Wachhabende legte vermutlich gerade eine Kaffee- oder Pinkelpause ein und Suntide nutzte die Gelegenheit, ein wenig seine Neugierde zu befriedigen. Auf einem Schreibtisch vor dem Regal mit den zahlreichen Geräten lag eine brennende Zigarette in einem Aschenbecher und daneben ein aufgeschlagenes Hochglanzmagazin für Wehrtechnik. Über die Stuhllehne hing in einem abgeschabten Lederhalfter ein großkalibriger Revolver und ein Paar verchromter Handschellen, die Telly neugierig in die Hand nahm.
Von einem der Geräte im Regal ertönte plötzlich ein regelmäßig wiederkehrender Piepton und der Prediger trat näher an den kleinen Radarschirm, auf dem ein grüner Punkt periodisch aufleuchtete. Vermutlich näherte sich gerade ein Schiff oder Flugzeug der ehemaligen Bohrinsel.
»He, was zum Teufel wollen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren, Meister, also verschwinden Sie, aber sofort!«
Telly fuhr erschrocken herum, denn er hatte den Wachmann überhaupt nicht kommen hören.
»Ich äh … ich bitte um Verzeihung, aber die Türe stand offen und ich wollte nur mal sehen, was hier so los ist! Äh, sagen Sie, ist das nicht ein Radargerät, das da so piept?«
Der Söldner warf einen schnellen, prüfenden Blick auf seine Waffe, nahm Telly beim Arm und schob ihn zur Türe.
»Ja, das ist ein Radargerät, das da so piept. Und jetzt verschwinden Sie endlich, bevor ich ärgerlich werde!«
»Okay okay … ist ja gut. Ich gehe ja schon. Einen schönen Tag noch!«
Als er wieder auf dem Flur stand und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, bemerkte der Reverend, dass er die Handschellen immer noch in seinen Fingern hielt. Er zögerte einen kurzen Augenblick, dann schob
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