Das Nest des Teufels (German Edition)
fühlte sich nur am Meer in Tammisaari zu Hause und fand das Binnenland schrecklich. Wir waren in derselben Schulklasse. David ist zum Glück ein Sprachgenie, sonst wäre er in der estnischen Schule nicht weit gekommen. Natürlich hatte er die Sprache als Kind von seinem Vater gelernt. Aber der Anfang war schwer, das weißt du wohl?»
Ich wusste es, denn über diesen Abschnitt seines Lebens hatte David offen gesprochen. Wir hatten unsere Kindheits- und Jugenderinnerungen geteilt wie Menschen, die den Rest ihres Lebens zusammen verbringen wollen. In Tartu hatte David das Segeln vermisst. Der Emajõgi, der durch die Stadt floss, war an den meisten Stellen schmal, und auf ihm stromabwärts zu gleiten war kein richtiges Segeln, aber David hatte ein paarmal aus einer Decke, den Rudern und einem Heureuter ein primitives Segel gebastelt und an einem Ruderboot befestigt. An einem Samstag im September war er voller Eifer zu Jaan gekommen: Sie hätten perfekten Rückenwind, jetzt bekäme das träge Ruderboot ordentlich Fahrt.
«Wir haben keinen anderen mitgenommen. Ich hatte es nicht so mit dem Wasser, mit meinen Schwimmkünsten war es auch nicht weit her. Meiner Meinung nach war der Wind fast ein Sturm, aber David lachte über meine Einwände. Er sei auf dem Finnischen Meerbusen bei viel schlechterem Wetter gesegelt. Ein sechzehnjähriger Junge kann selbst vor seinem besten Freund nicht zugeben, dass er Angst hat. Bald fing es an zu regnen, wir waren klitschnass, und das Boot schwankte wie einer von den finnischen Besoffenen, die man schon damals, also vor der Befreiung Estlands, auch in Tartu gelegentlich zu Gesicht bekam. Allmählich wurde der Fluss breiter und die Fahrt schneller, und schließlich kamen wir an eine steinige Stelle. David luvte routiniert, aber ein Ruderboot hat keinen Kiel und reagiert anders als ein Segelboot.»
Das Boot fuhr auf eine Klippe auf und zerbrach, und Jaan wurde von dem selbstgebauten Mast so unglücklich am Kopf getroffen, dass er ins Wasser fiel. An dieser Stelle war der Fluss mehr als zehn Meter breit, und die Strömung war stark. Jaan, der keinen Grund unter den Füßen fand, versuchte verzweifelt, sich an den Felsen zu klammern, rutschte aber immer wieder ab.
«David hätte mühelos ans Ufer schwimmen und sich retten können, aber das tat er nicht. Stattdessen tauchte er mir immer wieder nach, obwohl er sich bei dem Versuch, mich zu retten, selbst in Lebensgefahr brachte. Endlich erreichten wir das Ufer, ich war völlig erschöpft und bekam danach eine Lungenentzündung. Nachträglich machte sich David schwere Vorwürfe, er sagte, er trage die Schuld an dem Unglück, und deshalb hätte er den Tod verdient gehabt, wenn ich ertrunken wäre. Aber aus eigener Kraft hätte ich es nicht ans Ufer geschafft.» Jaan streckte den Arm aus, als wolle er nach meiner Hand greifen, zog ihn dann aber zurück. «Sich selbst bringt der verrückte Kerl in Gefahr, ohne mit der Wimper zu zucken, aber andere nicht. Vergiss das nicht, Hilja.»
«Ich stecke mindestens bis zum Gürtel in diesem Dreck. Sag David, er soll nicht in meine Nähe kommen. Ich bin Gezolians Köder, der den Luchs anlocken soll, damit Gezolian ihn abknallen kann. Mach David klar, dass er sich vom Köder fernhalten muss!»
Ich war müde. Die Erklärung, die Rand mir gegeben hatte, klang natürlich schön: David hatte keine Verbindung aufgenommen, um mich zu schützen. Deividas legte das Buch weg und rieb sich das verkrümmte Bein. Rand fragte ihn etwas auf Estnisch und fasste nach seiner Wade, als er nickte.
«Hilfst du mir, Hilja? Im Badezimmer, am Waschbecken, steht eine blaue Cremedose, ein Schmerzmittel. Bring sie her, dann reibe ich Deividas’ Bein ein.»
In der Badewanne lag eine gelbe Gummiente und wartete auf Gesellschaft. Ich brachte Rand das Medikament. Der Junge ließ sich vertrauensvoll von ihm behandeln. Offenbar stand Rand tatsächlich nur auf kleine Mädchen. Onkel Jari hatte mich genauso gepflegt, wenn ich krank war, er hatte meine vom Wachstumsschmerz pochenden Glieder massiert, mir Medikamente und mit Honig gesüßten Johannisbeersaft gegeben. Rands Hände fuhren so sicher über Deividas’ Bein wie die Zunge einer Luchsmutter, die ihr Junges ableckt.
«Du hast mir nicht geantwortet, als ich dich nach Laitio gefragt habe», sagte Rand plötzlich. «Wie geht es ihm?»
«Er ist todkrank.»
David hätte ich von Laitios Bitte erzählen können, doch Rand traute ich nicht.
«Du bist wie er, immer bereit, das
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