Das Nest
vergessen, daß viele von uns eher aus Notwendigkeit als aus Überzeugung Vegetarierinnen sind. Nichts gegen einen leckeren Braten, hin und wieder – aber Bohnen sind nun einmal sehr viel billiger als Speck. Manche Leute verstehen da nicht so viel Spaß wie ich.«
»Fang du nicht auch noch an«, stöhnte Lindsay. »Cordelia erzählt mir täglich, daß Typen wie ich – die Fleischfresser, mit einem Wort – die Landwirtschaft weltweit in die Katastrophe schlittern lassen. Manchmal fühle ich mich persönlich für jedes verhungernde Kind schuldig.«
Ungeduldig unterbrach Cara die Unterhaltung. »Können wir dann endlich essen?«
Während sie das Frühstück aus Speck, Eiern, Würstchen und Champignons vertilgten, erwachte das Camp wieder zum Leben. Einige Frauen holten in großen Plastikkanistern Wasser aus der Wasserleitung neben der Straße, während andere kochten, Zelte ausbesserten oder einfach dasaßen und redeten. Es war ein trockener, kalter Tag und die Sonne tastete sich nur in Form von vereinzelten Strahlen durch den Nebel. Lindsay machte sich auf die Suche nach Jane. Sie fand sie auf einer Kiste sitzen und in ein großes Heft schreiben. Ihr Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet.
»Hallo, Doktor. Wie geht’s?«
Jane zuckte die Schultern. »So lala. Ich glaube, langsam geht mir das alles zu nah. Die Organisation des Camplebens frißt mich dermaßen auf, daß ich bald nicht mehr weiß, wieso ich hier bin. Ich glaub’, ich brauch’ ein paar Tage Distanz, um die richtige Perspektive wiederzufinden.«
»Du kannst jederzeit bei uns wohnen, wenn du etwas Abstand brauchst.« Jane nickte, als Lindsay weitersprach. »Debs meint, du könntest mich in die Einzelheiten der Invasion einweihen, die für heute geplant ist.«
Jane beschrieb die verabredeten Planungen. Nicky sollte eine Gruppe von einem Dutzend mit Drahtscheren ausgerüsteter Frauen anführen. Sie würden im Wald auf ein Signal des Aussichtspostens warten, daß das Ablenkungsmanöver beim Haupttor von der Sicherheitswache genügend Aufmerksamkeit forderte, um ihnen ein Vordringen zum Zaun und Durchschneiden des Gitters zu ermöglichen. Was nach dem Eindringen in die Militärbasis geschah, blieb den Frauen selbst überlassen, aber allgemein bestand die Hoffnung, daß sie es bis zu den Raketensilos schaffen würden. Das Ablenkungsmanöver war für Mittag geplant, das Ereignis selber sollte eine Viertelstunde später stattfinden.
»Und was dich betrifft: Halt dich eher im Hintergrund«, meinte sie abschließend. »Hilf Deborah beim Singen. Und paß auf sie auf. Wir wollen nicht, daß sie wieder verhaftet wird, aber es würde ihr ähnlich sehen, sich von der allgemeinen Stimmung zu etwas Unvernünftigem hinreißen zu lassen. Ein paar einheimische Polizisten wissen in der Zwischenzeit recht genau, wen sie da vor sich haben. Sie würden sich auf die Gelegenheit nur so stürzen, davon bin ich überzeugt. Und Crabtree steht mit den hiesigen Polizeigrößen per Du, das sagt zumindest Judith. Was ich ihr sofort abnehme. Also, tu uns den Gefallen, das heißt, wenn du nicht die glühende Sehnsucht in dir verspürst, längerfristig auf Cara aufpassen zu wollen: Behalte Deborah im Auge.«
Am späten Vormittag breitete sich die Atmosphäre unterdrückter Aufregung rund ums Camp aus. Das Fernsehteam war eingetroffen und gerade dabei, einige Interviews und die üblichen Hintergrundfotos von den Zelten aufzunehmen. Lindsay fiel es leicht, ihre journalistischen Instinkte zu verdrängen und sich fern zu halten. Schließlich war es ihr freier Tag, und da der Clarion keine Sonntagsausgabe hatte, plagten sie auch keine Schuldgefühle, eine Story zu versäumen. Sie registrierte, wie Jane und ein paar andere erfahrene Friedensaktivistinnen den Fernsehleuten diskrete Hinweise erteilten. Auch ein paar unmißverständliche Gesten in Richtung der riesigen, die ganze Gegend beherrschenden Bunker waren dabei.
Um mittag herum kam Deborah sie suchen. Sie hatte Cara bei den anderen Kindern und Josy, einer im Camp lebenden Mutter, im Bus gelassen und schloß sich nun den Frauen an, die langsam und unbeirrt zum Haupttor aufbrachen. Etwa vierzig Frauen waren gekommen. Eine Gruppe, bestehend aus einem halben Dutzend Frauen, marschierte frech zu den Wachposten auf beiden Seiten des Eingangs und begann, mitgebrachte Wollknäuel abzuwickeln. Sie spannten die Fäden um die Häuschen der Wachposten und schufen so rasch ein verschlungenes Spinnennetz. Andere Frauen gingen zu den Toren
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