Das Nest
hinüber und knüpften die Wollschnüre in die schweren Drahtzäune, um die Wachhäuschen geschlossen zu halten. Deborah kletterte auf einen großen Abfallbehälter aus Beton direkt vor dem Eingang und zog Lindsay nach. Gemeinsam begannen sie, eines der Lieder zu singen, die im Camp entstanden waren, und bald hatten auch die anderen Frauen mit eingestimmt.
Innerhalb des Stationierungsgeländes sahen sie die Militärpolizei der britischen Luftwaffe, gefolgt von US-Wachhabenden, im Laufschritt anrücken. Außerhalb, auf Seiten der Frauen am Haupttor, erschien zivile Polizei zur Unterstützung der beiden ständig diensthabenden Wachtposten. Das Fernsehteam filmte fieberhaft die Geschehnisse.
Ihnen bot sich ein völlig chaotischer Anblick. Dann stieß eine Frau einen aufgeregten Schrei aus und deutete auf die Silos. Dort hoben sich die Gestalten tanzender und winkender Frauen vom grauen Märzhimmel ab. Durch die Schreie aufmerksam gemacht rannten die Filmleute mit laufender Kamera am Zaun entlang. Innerhalb der Stacheldrahtumzäunung drehten die Militärs um und rasten über das armselige Gras zu den Bunkern, die die Raketen beherbergten.
Vorm Tor begann sich die Versammlung leise aufzulösen – zur Enttäuschung der Polizisten, die begonnen hatten, Verhaftungen vorzunehmen. Sie waren doch gerade erst so richtig in Schwung gekommen! Lindsay sprang mit einem Gefühl wie nach ein paar Joints vom Rand des Abfallbehälters und warf sich Deborah an den Hals. Wie die anderen Frauen umarmten sie einander und hüpften auf dem Platz herum, bevor sie sich umdrehten und zur Straße, die zum Friedenscamp führte, rannten. Dort stand ein großer, schlanker Mann mit einem Foxterrier an der Leine. Sein höhnisches Grinsen wirkte sich auf seine eben erst verheilten Gesichtszüge nicht gerade vorteilhaft aus.
»Amüsieren Sie sich nur, so lange Sie noch können, Miss Patterson. Bald schon werden Sie ihre Zeit an einem Ort verbringen, an dem es nicht viel zu lachen gibt.« Nachdem er seine Drohung ausgestoßen hatte, marschierte Crabtree auf der Hauptstraße weiter vom Camp weg. Lindsay reagierte bestürzt, Deborah eher verblüfft.
»Sadistisches Schwein. Er kann einfach nicht widerstehen: Jedes Mal, wenn er mich sieht, muß er auf mich losgehen«, seufzte sie. »Anscheinend nimmt er sogar Umwege für diese kleinen zufälligen Treffen in Kauf. Aber er wird mich nicht kleinkriegen. Schon gar nicht an einem Tag wie heute.«
VIER
Die Frauen waren in das für Versammlungen und Plenen gedachte große Zelt geströmt. Lindsay konnte sich noch immer nicht an die konsequente Art gewöhnen, wie hier traditionelle Strukturen abgelehnt wurden, um das Entstehen von Hierarchien zu verhindern. Alle saßen in einem großen Kreis und eine Frau sprach nach der anderen, ohne unterbrochen zu werden. Die Euphorie des Tages stand im Raum. Auch die Filmcrew war noch da, und nicht einmal die Nachricht, daß dem Dutzend Frauen, die es bis zu den Silos geschafft hatten, Anklagen wegen kriminellen Vergehens und widerrechtlicher Besetzung drohten, konnte der allgemeinen Hochstimmung etwas anhaben.
Aber etwas hatte sich seit Lindsays erstem Besuch in der Einstellung der Friedensaktivistinnen geändert. Immer mehr Frauen traten nun für offensiveres Vorgehen und direkte Aktionen ein. Lindsay fiel auf, wie schwer sich Jane und ein paar andere Frauen, die schon lang im Camp lebten, dabei taten, Draufgängernaturen wie die eigensinnige Nicky davon zu überzeugen, daß bei Aktionen auf Gewalt zu verzichten und Gesetzesübertretungen möglichst gering zu halten waren. Nach einiger Zeit wurde das Meeting ohne Entscheidung auf den nächsten Nachmittag vertagt.
Der Rest des Tages verging rasch für Lindsay, die ihre Zeit damit verbrachte, am Zaun entlangzuschlendern und neue Freundschaften mit Frauen wie Jacky zu schließen. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf das England der Mrs. Thatcher, wie sie die verschiedenen Frauen zum Ausdruck brachten, waren für Lindsay sehr aufschlußreich. Was für ein wertvoller Kontrast zur zynischen Zeitungswelt und dem bequemen und behüteten Leben mit Cordelia. Jackie und ihre Lebensgefährtin Willow, die beide aus Birmingham kamen, erklärten Lindsay, wie sie sich im Camp zum ersten Mal miteinander wohlfühlen konnten. Hier waren sie geschützt vor dem ständigen Druck rassistischer Vorurteile, der es ihnen zu Hause so schwer gemacht hatte, das Leben zu genießen. Nach dem Essen mit Cara und Deborah war für Lindsay klar, daß
Weitere Kostenlose Bücher