Das Nest
doch nicht alles sein. Was ist mit der Kripo? Was tut sich dort? Wer ist für die eigentlich zuständig?«
Riganos Züge verdüsterten sich und auf einmal empfand Lindsay die Situation als bedrohlich. »Ich bin zuständig«, antwortete er grimmig. »Und ich werde meine Verpflichtungen einhalten, machen Sie sich keine Sorgen. Hab’ ich Sie mit Stanhope zusammengebracht oder nicht? Ihnen erzählt, wo die Tochter zu finden ist? Versuchen Sie nichts zu erzwingen.«
Enttäuscht trank sie ihr Bier und rauchte in der Stille, die plötzlich zwischen ihnen herrschte, eine Zigarette. Dann erhob sich Rigano mit einem Ruck und leerte im Aufstehen sein Glas. »Ich muß zurück«, erklärte er. »Und je früher ich zurück bin, desto eher werden wir in diesem Chaos eine Lösung finden. Halten Sie mich über Ihre Fortschritte auf dem laufenden.« Und schon war er draußen. Lindsay verzichtete auf ihr restliches Bier und fuhr zurück zum Camp.
Sie parkte und ging zum Bus hinüber. Niemand war da. Sie setzte Teewasser auf, aber noch bevor es zu kochen begann, erschien Deborahs Gesicht in der Tür. »Viel zu tun?« erkundigte sie sich.
Lindsay schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht«, antwortete sie. »Eigentlich wollte ich dich gerade suchen gehen. Ich brauch’ schon wieder deine Hilfe.«
Deborah machte es sich gemütlich. »Sag’s schon. Bist du dem Konsumterror erlegen? Die tollen Fetzen, die du anhast, stammen doch nie und nimmer alle aus dem schlichten Beutel, den du mitgebracht hast.«
»Ich mußte etwas organisieren, in dem man mir die ehrgeizige Journalistin abnimmt. Die Allgemeinheit steht so selten auf verrottende Levis mit Sweatshirt. Hab’ ich was versäumt?«
»Judith kommt mich um drei Uhr besuchen.«
Lindsay schenkte Kaffee ein und erkundigte sich: »Wegen der Geschichte mit dem tätlichen Angriff?«
»Genau«, bekräftigte Deborah. »Sie möchte mir die Situation im Detail erklären. Ich glaube, sie hat heute irgendwas Neues erfahren – eine neue Einschätzung oder sowas. Also, und was wolltest du von mir? Hoffentlich nichts Unanständiges.«
»Du mußt heute abend mit mir essen gehen. In London.«
Deborah zeigte sich überrascht: »Ich dachte, Cordelia wohnt in London? Ißt sie nicht mehr zu Abend?«
»Bei diesem bestimmten Abendessen solltest du dabei sein. Wir gehen in ein kleines vegetarisches Restaurant namens Rubinröte .«
»In Lokale mit derart klingenden Namen lädst du mich ein? Auf eigene Kosten? Hast du gar keine Angst, wen du dort treffen könntest? Wie paßt denn das zu unserem großartigen Vorsatz von wegen ›so locker wie möglich‹…?«
Lindsay schnitt eine Grimasse. »Das ist rein geschäftlich, kein Vergnügen. Rubinröte gehört Ros Crabtree, der Tochter unseres heißgeliebten Rupert. Von ihren lesbischen Neigungen hatte Papa offensichtlich keine Ahnung. Und du sollst mitkommen, um festzustellen, ob dir Ros oder andere Leute aus ihrer Umgebung in letzter Zeit in Brownlow aufgefallen sind. Einverstanden?«
Während Deborah ihre Zustimmung erklärte, quietschten draußen die Bremsen von Judiths Wagen.
In ihrem dunkelgrünen Tweedanzug mit der beigen Seidenbluse stellte sie ihre Rolle als seriöse Anwältin sehr überzeugend dar. Aber hinter der gebügelten Fassade hatten heftige Detonationen in der Gerüchteküche ihre deutlichen Spuren hinterlassen: Bei genauerer Betrachtung schien Judith jeden Augenblick vor Begeisterung zu explodieren. Außerdem war ihr bewußt, daß sie ihr Wissen nur bei Lindsay abliefern mußte, um ihm den fruchtbarsten Boden zur Weiterverbreitung zu sichern.
»Du schaust aus wie die Katze, die den Sahnetopf leergeschleckt hat«, bemerkte Lindsay.
»Wie schrecklich unprofessionell von mir, tut mir leid. Von uns Rechtsanwälten wird immer erwartet, nie Gefühle durchblicken zu lassen. Aber hier handelt es sich um eine so schöne Geschichte vom öffentlichen Waschen schmutziger Wäsche, daß ich unmöglich cool und beherrscht bleiben kann. Ein herrliches Beispiel für Klatsch, und das Beste daran: Alles ist hundertprozentig wahr. Also Lindsay, solltest du das, was jetzt kommt, verwenden wollen, hast du’s sicher nicht von mir gehört, verstanden?«
Lindsay nickte gelangweilt von den dauernden Forderungen nach Anonymität. Zu Beginn ihrer Berufstätigkeit hatte es stets ein Ansteigen ihres Adrenalinspiegels bewirkt, wenn die Leute verlangten, nicht genannt zu werden. Aber die Erfahrung, wie unwichtig neunzig Prozent der besagten Enthüllungen
Weitere Kostenlose Bücher