Das Nest
tatsächlich waren und der daraus folgende Zynismus hatten ihre freudige Erregung in derartigen Situationen schon vor Jahren abflauen lassen. Vielleicht brachte ihr das, was Judith zu sagen hatte, ein paar Absätze. Aber bevor sie sich auch nur irgendwie aufregte, wollte sie hören, was los war.
»Rupert Crabtrees letzter Wille wird von einem unserer Kompagnons im angrenzenden Gebäude verwaltet. Der Juniorpartner ist außerdem ein alter Freund von mir, und ihm ist es gelungen, einen Blick auf das Testament zu werfen. Ihr braucht nicht zu raten, ihr würdet sowieso nie draufkommen, wer zehntausend Pfund erbt…«
Lindsay stöhnte. »Ros Crabtree? Simon?«
Judith schüttelte ungeduldig den Kopf. »Aber nein! Die kriegen jeweils ein Drittel der reinen Erbmasse, etwa fünfzigtausend auf jedem Fall. Also, die zehntausend gehen an Alexandra Phillips. Ist das nicht sensationell?« Sie war eindeutig enttäuscht von den ausdruckslosen Mienen ihrer Zuhörerschaft. »Aber Lindsay, du hast doch von Alexandra gehört? Ja, solltest du dich nicht mit Rupert Crabtrees Leben und Werk beschäftigen? Und da hat dir niemand von Alexandra erzählt? Sie war seine Geliebte.«
Das letzte Wort aus ihrem Mund sicherte Judith sämtliche Aufmerksamkeit im Raum. Lindsay schoß hoch und verschüttete dabei die Reste ihres Kaffees. »Seine Geliebte?« wiederholte sie. »Wieso, verflixt noch einmal, hat mir kein Schwein erzählt, daß er eine Geliebte hatte?«
Judith zuckte die Schultern. »Ich nahm an, du wüßtest Bescheid. Es war zwar nicht gerade allgemein bekannt, aber ich schätze, von uns Rechtsanwälten wußten es die meisten. In letzter Zeit schien das Ganze allerdings etwas abzukühlen, zumindest von Alexandras Seite her.«
Lindsay zählte leise bis zehn. Dann sagte sie langsam und artikuliert: »Erzähl mir alles, was du über die Affäre weißt, Judith. Ich will’s wissen. So-fort.«
Judith machte einen überraschten und vom schneidenden Ton der Worte verletzten Eindruck. »Alexandra Phillips ist etwa fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitet bei Hampson, Humphrey and Brundage in Fordham als Rechtanwaltsanwärterin und ist dort für die Knochenarbeit zuständig. Sie stammt aus dem Ort und war früher mit Ros Crabtree befreundet. Ich kenne sie vom Job und durch meine jüngere Schwester Antonia, die viel mit ihr und Ros unterwegs war. Auf jeden Fall kam Alexandra vor etwa eineinhalb Jahren nach Fordham zurück, und gleich danach stürzte Rupert sich auf sie. Er hat sie zum Abendessen in verschwiegene kleine Fünfsternerestaurants aus dem Gault Millau eingeladen und ihr die alte Leier vorgeraunzt, er wolle sie ›von seiner Erfahrung profitieren lassen.‹ Blabla. Aber die liebe Alexandra, ein leicht zu beeindruckendes Kind, ist ihm sehr bald auf den Leim gegangen. Ich weiß das, weil sie noch am Anfang der Geschichte damit zu mir gekommen ist. Als ich ihr riet, doch nicht so dumm zu sein und ihn abblitzen zu lassen, hat sie mir die kalte Schulter gezeigt und mir nie wieder etwas erzählt. Später ist mir dann bei verschiedenen Gelegenheiten sein Auto vor ihrer Wohnungstür aufgefallen. Und das Testament deutet ebenfalls darauf hin, daß eine Beziehung bestanden hat. In Antonias Clique ging jedenfalls das Gerücht um, daß Alexandra daran dachte, die Affäre zu beenden. Es wurde davon gesprochen, daß sie einen anderen Fisch an der Angel hätte. Mit Namen kann ich leider nicht aufwarten. Antonia sagt, daß Alexandra zu dem Thema schweigt wie ein Grab.«
»Ausgezeichnet«, erklärte Lindsay, sprang auf und schlüpfte in ihre Jacke. »Dann komm jetzt, Judith.«
Judith machte ein erstauntes Gesicht. »Wohin?«
»Wo immer sich Alexandra gerade herumtreibt. Ich will mit ihr reden, und zwar je schneller desto besser – bevor der Rest der Welt auf dieselbe Idee kommt.«
»Aber wir können doch nicht einfach ohne Verabredung bei ihr hereinplatzen. Außerdem bin ich hier, um mit Deborah über ihren bevorstehenden Gerichtstermin zu reden.«
»Ach Gott«, seufzte Lindsay ungeduldig. »Ja, natürlich. Aber danach steht die ›Heimsuchung der Alexandra Phillips‹ auf der Tagesordnung. Als absoluter Pflichttermin.«
Betroffen erklärte Judith so schnell sie konnte Deborah ihre Lage. Nachdem der einzige Zeuge der Anklage verstorben war, konnte die Polizei dem Gericht keine Beweise mehr vorlegen. Und da sie kein Schuldbekenntnis abgegeben hatte, würde der Fall demnach niedergeschlagen werden. Es sei sehr unwahrscheinlich, daß die Polizei in
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