Das Nest
zusammenzuarbeiten. Aus Angst vor Mißverständnissen wollen die Menschen der Polizei oft nicht alles anvertrauen. Sie fürchten, daß Verdacht auf Unschuldige fällt. Ich verstehe meine Funktion als eine Art Filter. Alles, was Sie nicht an die Öffentlichkeit weitergeben wollen, bleibt unter uns, bis ich mir ein Bild von dem Ganzen gemacht habe und weiß, worauf es ankommt.«
»In meinen Kreisen nennt man das Unterschlagung von Beweismaterial«, konterte Alexandra. »Ich verstehe noch immer nicht, was Sie zu mir führt.«
Lindsay wollte auf keinen Fall Druck auf die junge Anwältin ausüben. Aber anscheinend blieb ihr trotz Alexandras sichtlicher Verletzbarkeit nichts anderes übrig. »Schon bald wird Rupert Crabtrees Testament in der Öffentlichkeit bekannt sein. Die Polizei wird Sie sprechen wollen, und nicht nur die: Reporter von jeder Zeitung in diesem Land werden Ihnen die Tür einrennen, und Sie können Gift darauf nehmen, daß die meisten von denen nicht so höflich sein werden wie ich. Sie können sie natürlich mit den verschiedensten Tricks hinhalten, aber irgendwann geht Ihnen das alles so auf die Nerven, daß Sie nur noch aus der Sache raus wollen.
Die Alternative ist, einen Großteil der Aufregungen zu umgehen, indem Sie jetzt mit mir sprechen. Ich werde einen Artikel schreiben, der Sie nicht als den Vamp von Fordham hinstellt. Sie können ein paar Tage Urlaub nehmen, bis sich die Gemüter wieder beruhigt haben. Wenn erst einmal alle interessanten Fragen beantwortet sind, werden Sie für die Öffentlichkeit bald nur noch Schnee von gestern sein. Außerdem können Sie möglicherweise ein Fehlurteil verhindern, wenn Sie offen mit mir reden. Also, ich weiß, daß Sie seit einem Jahr ein Verhältnis mit Rupert Crabtree hatten und ich weiß auch, daß Sie sich von ihm trennen wollten. Vielleicht erzählen Sie mir den Rest?«
Alexandra vergrub ihren Kopf in den Händen. Als sie ihr Gesicht hob, glitzerten ihre Augen. »Schön zu wissen, wer die wahren Freunde sind, Judith«, sagte sie bitter.
Lindsay sprach mit einer Sanftheit, die in scharfem Kontrast zu ihrer vorherigen Angriffslust stand, weiter: »Judith hat versucht, Ihnen zu helfen, indem sie mich hierhergebracht hat. Sie hätte Sie auch den Wölfen zum Fraß vorwerfen können, um Vorteile für ihre Klientin herauszuschinden, aber sie wollte fair sein.« .
»Und Sie – Sie gehören nicht zufällig zu den Wölfen?«
»Aber nein. Ich bin das Schmusekätzchen. Glauben Sie nicht, daß Judith Sie betrogen hat. Von der Sorte werden Ihnen in den nächsten paar Tagen noch genug über den Weg laufen.«
Alexandra seufzte angeekelt. »Na gut. Ja, ich war Ruperts Geliebte. Und ich schäme mich dessen nicht im geringsten.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, forderte Lindsay sie auf.
Alexandra senkte den Blick auf ihre Schreibtischunterlage und fuhr mit sanfter Stimme fort: »Er war ein wunderbarer Gesellschafter, geistreich, warmherzig. Und sehr großzügig. Nach allem, was Sie hier so gehört haben werden, fällt es Ihnen sicher schwer zu glauben, daß er zärtlich sein konnte. Aber wenn wir uns trafen, war er ganz anders als sonst. Vielleicht fand er es erfrischend, mit einer Frau zusammenzusein, die die Schwierigkeiten seines Berufs kannte.«
Lindsay ließ nicht locker. »Und trotzdem wollten Sie Schluß machen. Warum eigentlich?«
Alexandra zuckte die Achseln. »Ich hab’ einfach keine Perspektive gesehen. Es war von Anfang an klar, daß er seine Frau nie verlassen würde – er war ja nicht unglücklich in seiner Ehe. Na ja, möglicherweise stellte ich mir unter einer langfristigen Beziehung etwas anderes vor als Abendessen in obskuren Restaurants und verbotene heimliche Treffen, wenn es ihm gerade paßte. Ich habe ihn geliebt, das kann ich nicht abstreiten, aber das war nicht genug. Ich brauchte einfach mehr vom Leben. Und genau zu dem Zeitpunkt, wo’s mir besonders mies ging, verliebte ich mich in jemanden, den ich schon jahrelang kannte, einen Mann, der ganz anders ist als Rupert. Mit ihm ist vielleicht eine dauerhaftere Beziehung möglich.«
»Und Sie haben Rupert gesagt, daß es aus ist?«
Alexandra lächelte gezwungen. »Man merkt sofort, daß Sie Rupert nicht kannten. Er hatte ein unglaubliches Temperament. Wenn er wütend wurde, dann mit Stil. Nein, ich hab’ ihm nicht gesagt, daß es vorbei war. Nur, daß ich anfangen müßte, an meine Zukunft zu denken. Daß ich irgendwann Kinder haben wollte und einen Mann, der immer für sie und für
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