Das Nest
fiel der Länge nach hinein, wobei sie sich schmerzhaft den Knöchel verstauchte. Aber statt im schlammigen Morast zu versinken, landete sie auf etwas Weichem, Nachgiebigem. Lindsay rutschte weg und fummelte mit dem Feuerzeug, das sie paradoxerweise noch immer umklammert hielt, in der Gegend herum. Was sie in dem schwachen Lichtschein erblickte, ließ ihren Herzschlag kurz aussetzen.
Deborah lag mit dem Gesicht nach unten in dem Graben, aus einer offenen Wunde auf der linken Seite ihres Kopfes tropfte Blut. »Oh mein Gott«, stöhnte Lindsay und richtete sich mühsam auf. »Debs, Debs«, rief sie und packte Deborah bei den Schultern, während sie mit Tränen der Panik kämpfte. Sie erinnerte sich an die Erste-Hilfe-Regel, die besagt, Patienten mit Kopfwunden nicht zu bewegen. Aber wenn Deborah mit dem Gesicht im Schlamm liegenblieb, würde sie ersticken. Also zog sie an ihrer linken Schulter, bis es ihr gelungen war, sie in Seitenlage zu hieven. Lindsay nahm ihren Schal und wischte vorsichtig den Dreck von Deborahs Gesicht. Sie biß die Zähnen zusammen, säuberte Nase und Mund von Schlick und kontrollierte ihre Atmung, indem sie das Ohr an Deborahs Mund legte. Sie konnte nichts wahrnehmen. »Debs, Debs, atme, hörst du, atme«, stammelte sie verzweifelt und trommelte auf Deborahs Brust ein. Nach einigen Sekunden, die ihr wie die Ewigkeit vorkamen, wurde sie mit einem gehusteten Spucken belohnt, das Deborah heraufwürgte. Lindsay, die sich selbst fast übergeben mußte, vergewisserte sich, daß die Geliebte trotz ihrer Bewußtlosigkeit fähig war zu atmen, stand auf und schrie so laut sie konnte um Hilfe.
Es schien Stunden zu dauern, bis zwei fackeltragende Frauen mit überraschten Mienen auftauchten.
»Holt Hilfe, holt Hilfe!« flehte Lindsay leicht hysterisch. »Debs ist angegriffen worden. Holt die verdammte Polizei. Wir brauchen einen Rettungswagen.«
In der nächsten halben Stunde ging es hoch her, als zuerst die Polizei und danach der Notarztwagen anrollten, um Deborah eiligst ins Krankenhaus zu bringen. Lindsay kam der Ernst der Lage so richtig zu Bewußtsein, als ihr ein junger Polizist in das Rettungsfahrzeug half und sie mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen jagten.
Im Allgemeinen Krankenhaus von Fordham wurde die Tragbahre, auf der Deborahs unbeweglicher Körper lag, sofort und noch immer unter Polizeischutz auf einem kleinen Wagen weggeschoben. Lindsay saß erschöpft, durchnäßt und schmutzig auf den Stufen zur Unfallabteilung und hielt sich an einer geknickten Zigarette fest. Sie war starr vor Angst um Deborah. Einer der Sanitäter aus dem Notarztwagen blieb auf dem Rückweg zu seinem Fahrzeug neben ihr stehen und sprach sie an: »Das haben Sie gut gemacht«, meinte er. »Ihre Freundin wäre wahrscheinlich gestorben, wenn Sie ihr nicht den Kopf aus dem Schlamm gezogen hätten. Gott sei Dank haben Sie vernünftig reagiert.«
Lindsay schüttelte den Kopf. »Aber ich hab’ nicht vernünftig reagiert. Ich war total in Panik und hab’ alles rein instinktiv gemacht. Wenn sie nur nicht stirbt… Wie geht es ihr? Wissen Sie was?«
Er zuckte die Schultern. »Sicher noch nicht aus dem Gröbsten heraus. Aber die können was, die da drin. Sie sollten ins Warme reingehen, sonst verkühlen Sie sich noch. Trinken Sie doch eine Tasse Tee.«
Lindsay nickte müde. »Ach ja.« Während sie sich aufmühte, kletterte er in den Wagen zurück. Sie wollte gerade zur Tür hinein, als sich eine schwere Pranke auf ihrer linken Schulter niederließ. Sie gehörte einem Reporter, den sie vom Sehen kannte.
»Worum geht’s?« tönte er. »Wir haben gehört, daß jemand angegriffen worden ist, aber aus den Bullen ist nichts rauszukriegen.« Lindsay starrte ihn verständnislos an. »Komm schon, Lindsay«, drängte er. »Sei nicht so egoistisch. Ich hab’ nur noch eine halbe Stunde bis Redaktionsschluß für die nächste Nummer. Du hast doch sowieso schon alle Exklusivberichte in der verfluchten Geschichte gehabt. Gib uns auch einmal eine Chance.«
Das Bedürfnis, ihre Faust in seinem Gesicht zu deponieren, ließ sie fast zuschlagen. Statt dessen erwiderte sie schlicht: »Hau ab«, schüttelte seine Hand von ihrer Schulter und machte auf dem Absatz kehrt. Trotzdem hatte sie der Zwischenfall auf eine Idee gebracht, wie sie ein wenig Distanz zwischen den Anschlag und ihre Gefühle schieben konnte. Wie ein Zombie taumelte sie in die Klinik, fragte eine vorbeigehende Krankenschwester nach dem nächsten Telefon und
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