Das Nest
ungläubig den Kopf. »Wir sind hier in der englischen Provinz, und nicht in der New Yorker U-Bahn. Es ist einfach nicht üblich, daß ich mir eine Kanone einstecke, nur weil ich annehme, irgend jemand könnte mir vielleicht auf die Nerven fallen. Wenn er sich wirklich davor gefürchtet hätte, angegriffen zu werden, wenn er ernsthafte Drohungen erhalten hätte, wäre er doch sicher damit zur Polizei gegangen?«
Simon zuckte die Schultern. »Mich brauchen Sie da nicht fragen. Wahrscheinlich hätte es ihm sogar Spaß gemacht, dem- oder derjenigen zuerst einmal mit seinem Schießeisen Angst einzujagen, und erst dann die Polizei zu holen. Und meiner Meinung nach hatte er wirklich eine Heidenangst vor den Frauen in dem Camp. Besonders, nachdem ihn die eine attackiert hat.«
Lindsay schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, daß er im Ernst meinte, die Frauen hätten es auf ihn abgesehen«, erklärte sie. »Es muß etwas anderes gewesen sein. Hat er nichts erwähnt?«
»Nein. Und wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich gern zu meiner Arbeit zurück«, erwiderte er.
»In Ordnung. Vielen Dank für Ihre Zeit. Ich bin überzeugt, Ros wird sich über Ihre solidarische Haltung freuen«, sagte sie beim Gehen über die Schulter.
Wieder im Auto notierte sie sich die Namen der Computer, die sie gesehen hatte, auf die Rückseite einer alten Rechnung und startete, nach dem roten Fiesta Ausschau haltend. Aber ihr Rückspiegel war frei, und so hielt sie an der erstbesten Telefonzelle. Typischerweise handelte es sich um eine, von der nur Notrufgespräche geführt werden konnten. Erst die dritte stellte sich als brauchbar heraus, und sie wählte eine Oxforder Nummer. Rasch war sie mit einer Freundin aus Studienzeiten verbunden, Annie Norton, einem Wunderkind auf dem Gebiet der Computerwissenschaften.
Nachdem sie gar nicht wenig Zeit und etliche Münzen damit verplempert hatten, einander über den letzten Stand der gemeinsamen Gerüchteküche zu informieren, kriegte Lindsay schließlich die Kurve und kam zum eigentlichen Grund ihres Anrufs. »Annie, ich brauche deine Hilfe in einer verzwickten Sache.«
»Wenn’s um Caroline Redferns so oft durch den Kakao gezogenes Liebesleben geht, kriegst du kein Wort aus mir raus«, verwahrte sich Annie.
»Nein, es ist was Ernstes, kein Tratsch. Es hat mit Computern zu tun. Ich bin im Besitz einer Kassette, die wahrscheinlich ein Computerprogramm enthält. Es ist auf einem von vier Geräten hergestellt worden, und ich muß wissen, was drauf ist. Kannst du mir helfen?«
»Eine Kassette? Wie ungewöhnlich. Und du meinst wirklich Computer, keine Videospielchen?«
»Ich glaub’ schon, ja.«
»Hmm. Und kein Hinweis auf die Sprache?« erkundigte Annie sich.
»Englisch, vermutlich.«
»Nicht doch – welche Computersprache: BASIC, FORTRAN, ALGOL usw.«
»Oh«, verschluckte sich Lindsay. »Nein, nichts dergleichen, außer es gibt eine Computersprache, die ›Sting: The Dream Of The Blue Turtles ‹ heißt.«
»Wie bitte? Ist das dein Ernst?«
Lindsay lachte. »Nein, aber das steht auf dem Band drauf.«
»Und welche Marken stehen zur Debatte?«
»Ein Apple Macintosh – mit Maus, ein IBM, ein Apricot, ein Armstrad und ein Tandy.«
»Ein Tandy? So ein kleiner Laptop, der in die Aktentasche hineinpaßt? Mit aufklappbarem Bildschirm?«
»Ja, genau.«
Annie seufzte erleichtert. »Das erklärt die Kassette. Wahrscheinlich wurde es von einem der anderen Dinger kopiert«, überlegte sie. »Es sollte nicht allzu schwierig sein, es zu entschlüsseln. Ich werd’s durch unseren Großrechner schicken. Wann kannst du’s herbringen?«
»So in etwa einer Stunde – ich komm’ gerade aus Richtung Fordham und steh’ da gleich neben der Straße.«
»Super. Wir könnten zusammen Mittagessen, wenn du willst.«
Lindsay war in Versuchung. Sie hatte den Punkt erreicht, wo sie nur noch weg wollte, weg von den diversen Interessenskonflikten zwischen Friedenscamp, Polizei und Arbeit. Sie fühlte sich Cordelia gegenüber schuldig und wußte nicht, wie sie zu Debs stand. Aber sie hatte versprochen dranzubleiben und sie würde ihr Wort halten. Der Umweg über Oxford war gerade noch drin, jedoch nur, wenn sie sich bei Annie nicht zu lange aufhielt. »Tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich arbeite heute abend. Vielleicht, wenn ich es abholen komme, ja? Wie lange wirst du brauchen?«
»Schwer zu sagen. Einen Tag? Möglicherweise zwei, falls es etwas Komplizierteres ist. Wenn die Person, die
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