Das Netz der Schattenspiele
Agaf mit einem großväterlichen Lächeln, bevor er sich, deutlich ernster, wieder Salomon zuwandte. »Sie meinen, DiCampo hat diese Figuren nur geschickt, um Stella ihren Generalschlüssel abzuluchsen?«
Salomon nickte. »Genau das. Vielleicht steckte er sogar selbst hinter einer der Traumgestalten. Erinnern Sie sich noch, wie DiCampo einmal für kurze Zeit den Raum verließ? Es war gleich, nachdem Stella ihre Reise angetreten hatte. Ich habe mir nichts dabei gedacht, weil ich viel zu sehr mit meiner Tochter beschäftigt war. Selbst später, als er sich für längere Zeit ausklinkte, habe ich das nicht für so wichtig gehalten. Aber jetzt – wenn ich an ihren Traum von diesem della Valle und seinem auffälligen Interesse an dem Frettchen denke – frage ich mich, ob nicht DiCampo selbst dieser Avatar gewesen ist und…«
»Dieser was?«, unterbrach ihn der Afrikaner.
Salomon lächelte. »Avatare sind Stellvertreter eines Menschen im Internet. Der Begriff entstammt dem Sanskrit und steht für das Überwechseln eines höheren Wesens in den Körper einer anderen Person.«
»Sie meinen, Avatare seien nichts weiter als die Puppen von Bauchrednern im Internet?«
Jetzt musste Salomon laut lachen. »Ein amüsanter Vergleich, Agaf. Aber ich sehe, Sie haben’s verstanden. Nicht jeder, der im Internet kommuniziert, benötigt einen Avatar. Stella ist, wenn man so will, im Wachtraum sogar ihre eigene Stellvertreterperson und die meisten anderen Bewohner ihres Illusions dürften wohl reine Produkte der Phantasie sein. Aber die beiden Avatare, die ihr auf dem Marktplatz von Enesa begegnet sind, halte ich nicht dafür. Überlegen Sie doch einmal: Der zweite, dieser Sekretär von Enesa, hatte sogar wie DiCampo einen italienischen Namen, und so wie ihn mir Stella beschrieben hat, besaß er auch äußerlich sehr viel Ähnlichkeit mit unserem Projektleiter. Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass der Doktor hinter allem steckt. Er wollte, dass Stella ihm den isolierten Code des SKULL-Testers aushändigt, weil er ihm in der von mir für den Intruder angepassten Fassung nichts nützt.«
»Und hätte sie das wirklich tun können?«
»Nein, aber das konnte DiCampo ja nicht mit Sicherheit wissen. Die Versuchung war für ihn wohl einfach zu groß. Leider hat sich seine heimtückische Aktion letztlich gegen ihn selbst gewandt. Ich bin überzeugt, dass Stella, als sie einen der beiden Schurken bis vor die Tür des Geheimen Stadtarchivs verfolgte, fast an brisante Informationen gelangt wäre. Ja, ich behaupte sogar, das war der eigentliche Grund, weshalb DiCampo sie so schnell wie möglich los werden wollte und ihr den Auftrag gab, den Server der Australian Mining Company zu besuchen.«
Der Cyberworm-Leiter und Stellas Vater saßen zwei oder drei Minuten lang schweigend in ihren Sesseln. Zu viele Dinge waren gesagt worden, die Agafs bisheriges Weltbild auf den Kopf stellten. Offenbar überlegte er nun, welche Konsequenzen er aus seinem neuen Wissen ziehen sollte.
»Solange wir nicht wissen, welches Ziel DiCampo wirklich verfolgt, sollten wir die Sache für uns behalten«, sagte er schließlich.
»Sie glauben immer noch, er sei nicht mehr als ein karrieresüchtiger NSA-Beamter, nicht wahr?«
»Haben Sie eine andere Erklärung für sein sonderbares Verhalten? Mit Ihrer Software könnte er seinen Intruder zu einer absoluten Superwaffe im Informationskrieg machen. Sie haben ja selbst gesagt, die USA seien Angriffen aus dem Cyberspace so gut wie schutzlos ausgesetzt. Man könnte sein unkonventionelles Vorgehen also durchaus als patriotische Tat interpretieren. DiCampo scheint mir durchaus der Mann zu sein, der für ein bisschen Heldentum, verbunden mit einer steilen Karriere und einem fürstlichen Einkommen, eine Menge Tabus brechen würde.«
Salomon hob staunend die Augenbrauen. »Welche neuen Töne höre ich da aus Ihrem Mund, Agaf?«
»In meiner Einheit habe ich hauptsächlich Einzelkämpfer, manchmal sogar ziemlich verschrobene Spezialisten. Für sie alle muss ich die Integrationsfigur sein. Das zwingt mich oft zu Worten und Taten, die nicht unbedingt meine Empfindungen widerspiegeln. Aber jetzt habe ich ein wirklich ungutes Gefühl im Bauch, Mark. Wir müssen Ihrem Verdacht nachgehen…«
»Wir?«, fiel Salomon dem Teamleiter ins Wort.
»Sie wissen schon, was ich damit meine. Kimiko wird uns unterstützen. Wenn Sie nach weiteren Beweisen suchen, werden Sie mindestens noch einen zusätzlichen
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