Das Netz der Schattenspiele
Attentat verantwortlich, ein filmreifes Täuschungsmanöver, das einzig dem Zweck gedient hatte, Mark Kalder möglichst umfangreiche Zugeständnisse abzuringen. Sie selbst hatte den Intruder-Projektleiter nie leiden können, auch wenn er noch so viele Versöhnungsgesten machte. Eine davon war das Zurückpfeifen des Roten Johns gewesen. Aber was hieß das schon? DiCampo vertraute eben auf seine Mikrofone.
Leider hatte Stella mit Salomon seit dem Aufstehen noch nicht sprechen können. Ihr Vater war offenbar in dringenden Angelegenheiten unterwegs gewesen, denn erst hier im Konferenzsaal hatte sie ihn getroffen und ihm demonstrativ vor aller Augen den Gutenmorgenkuss auf die Wange gedrückt. Irgendetwas beunruhigte ihren Vater, das war ihr sofort aufgefallen. Sie hoffte, die Sitzung würde nicht länger dauern als an den Tagen davor. Doch schon kündigten sich Komplikationen an, und zwar aus dem Munde des Italieners.
»Vielleicht müssen wir unsere Einschätzung zur Strategie der Cyberterroristen revidieren. Bisher sind wir von einem kleinen, durch den Iran gedungenen Kreis gut ausgebildeter Extremisten ausgegangen. Die verheerendsten Angriffe entsprachen einem Muster, das wir auch von konventionellen Terroranschlägen solcher Gruppierungen kennen: Es wurden hauptsächlich staatliche Einrichtungen oder Repräsentanten des westlichen Kapitals angegriffen. Aber da Bombenanschläge gegen Kirchen und Altäre selten sind, haben die jüngsten Aktionen gegen das Judentum und die katholische Kirche im Cyberspace unsere Analytiker irritiert.«
»Im Golfkrieg hat Saddam Hussein auch Raketen auf Israel abgefeuert«, gab Benny zu bedenken.
»Das ist richtig. Aber sie zielten nicht auf die Klagemauer.«
»Vielleicht weil sie sich am Tempelberg, genau unterhalb des Felsendoms befindet«, warf Salomon ein. »Im Cyberspace kann man wesentlich genauer zielen.«
»Damit haben Sie natürlich Recht, Professor. Aber so einfach dürfen wir es uns wohl nicht machen.«
»Das sehe ich auch so, Doktor. Vielleicht müssen Sie Ihr schönes RAND-Szenario begraben und anhand der Fakten noch einmal ganz von vorn beginnen.«
Stella sah, wie DiCampo verwirrt blinzelte. Die Bemerkung ihres Vaters hatte ihn völlig überrascht. Offenbar war Salomons Schuss ins Blaue ein Volltreffer gewesen. Es dauerte einige Sekunden, bis DiCampo seine Beherrschung zurückgewonnen hatte und scheinbar ungerührt erwiderte: »Ich meine, es wäre zu früh, unsere bisherigen Schlüsse über den Haufen zu werfen, Professor. Dennoch gebe ich Ihnen Recht, die neuen Aspekte müssen berücksichtigt werden. Wir…«
DiCampo hielt inne, weil plötzlich Charles Townsend den Saal betrat und allein schon durch seine beträchtliche Körperfülle die Aufmerksamkeit auf sich zog. Der NSA-Mann schlich wie ein Großwildjäger auf Zehenspitzen durch den Raum und schob seinem Chef einen Zettel zu.
Der Italiener dankte Townsend und überflog die Notiz. Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Als er das Blatt in die Brusttasche seines blauen Anzugs steckte, wirkte er blass.
»Die Nacht war doch nicht so ruhig«, sagte er ernst. »Soeben bekomme ich die Meldung, dass durch eine Computermanipulation vor knapp vier Stunden ein Kommunikationssatellit außer Funktion gesetzt wurde.« DiCampo zog noch einmal den Zettel hervor und las den Inhalt zum zweiten Mal. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf, bevor er wieder in die Runde blickte. »Im gesamten Nordosten der Vereinigten Staaten sind die unterschiedlichsten satellitengestützten Systeme zusammengebrochen: Bankautomaten, Kreditkartengeräte, Pager, sogar ganze Fernsehnetzwerke sind ausgefallen. Kaum auszudenken, was geschehen wäre, wenn es einen unserer militärischen Satelliten erwischt hätte!«
Agaf Nbugu richtete sich plötzlich kerzengerade in seinem Stuhl auf. »Was haben Sie da eben gesagt?«
»Ich meinte, der Satellit hätte ebensogut eine Navigationseinheit für Interkontinentalraketen oder…«
»Das ist es!«, schnitt der Afrikaner dem Italiener das Wort ab. »Sie haben sich doch Gedanken über die Cyberterroristen und die Wahl ihrer Angriffsziele gemacht. Also, der Stromausfall in London oder die Attacke gegen das Krankenhaus richteten sich gegen das staatliche Gemeinwesen; die Anschläge gegen die Australian Mining Company oder die First National Bank of Chicago galten eindeutig der Wirtschaft beziehungsweise der Finanzwelt; und vor zwei Tagen waren dann zwei der großen Weltreligionen an der Reihe. – Fällt Ihnen nichts
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