Das Netz der Schattenspiele
Stimme orientieren, weil es in dem Gang absolut finster war. Doch nachdem sie das Kellergeschoss des Kuppelbaus betreten hatte – sie merkte es am Hall ihrer Schritte –, stolperte sie auch schon über eine Fackel.
Mithilfe von Stahl und Stein aus ihrer Tasche entzündete Stella etwas Zunder und brachte die Fackel zum Brennen. In der Rechten das Licht, links den Speer, bahnte sie sich ihren Weg durch das Kellergewölbe. Doch der Drache blieb unauffindbar.
Immer häufiger schüttelten Stella nun die Schwindelanfälle. Eigentlich hätte sie längst den Heimweg antreten sollen. Wider besseres Wissen beschloss sie aber, auch noch das über ihr gelegene Geschoss zu durchsuchen. Sesa Mina zeigte ihr eine Treppe nach oben.
Der Tempel der Wissenschaft war ein wirklich atemberaubendes Bauwerk. In seinem Zentrum befand sich ein riesiger runder Raum, den ein sternförmiges Mosaik zierte. Stella entdeckte mehrere goldene Altäre. Von einem kräuselte eine weiße Rauchfahne der fernen Kuppeldecke entgegen. Der zentrale Altarbereich wurde von unzähligen Stuhlreihen eingeschlossen wie das Herz einer Zwiebel von den Schalen. Zum Außenrand hin gab es einen Säulengang, den eine Vielzahl kleinerer Räume säumten.
Der monumentale Bau war völlig verlassen. Anscheinend hielt es kein einziger Priester um diese Tageszeit für nötig, ein neues Opfer in Brand zu stecken. Stella ging unter der äußeren Säulenarkade entlang und studierte nacheinander die verschiedenen Räume. Sie sah Kammern mit Gerätschaften für den Tempeldienst, Zellen mit Betten, Archivräume, in denen Schriftrollen und Bücher lagerten, aber nirgendwo entdeckte sie auch nur die Schwanzspitze eines Drachen.
Umso mehr machte ihr das Schwindelgefühl zu schaffen. Als dann ein erneuter schwerer Anfall sie überkam, brach Stella die Suche ab. Sie hatte immer noch das Schattenwort. Enttäuscht, sogar ein wenig verbittert, bat sie Sesa Mina, ihr nach Hause zu helfen.
Nach einer ihr ewig erscheinenden Fahrt endlich vor den Mauern Enesas angekommen, war Stella zu erschöpft, um sich noch den Schikanen der Kontrolleure aussetzen zu können. Sie wollte nur nach Hause, nur noch ins Bett und lange, lange schlafen. Sesa Mina hörte mit Freuden diese Bitte ihrer Herrin und versprach, ihr diesen Wunsch so schnell wie möglich zu erfüllen.
Während Stella noch mit schwindenden Sinnen über die Bedeutung des Wortes »Bereshit« rätselte, brachte das Frettchen zum zweiten Mal die Mauern Enesas zum Erlöschen.
VERDACHTSMOMENTE
Stellas Augenlider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings. Ihre Glieder waren unendlich schwer. Schon ein einziger Atemzug schien ihre ganze Kraft zu fordern. Alles um sie herum drehte sich, befand sich in Bewegung: Menschen, Tische, Gegenstände. Sie hörte eine ferne hohe Stimme, die sie aus dem Wachtraum zu locken suchte. Doch Stella hatte keine Eile, verspürte nur diese bleierne Trägheit, die es ihr so schwer machte, die Augen offen zu halten. Als ihr das dennoch einigermaßen gelungen war, tauchte aus dem Durcheinander ein Gesicht auf.
Es gehörte einem Mann in einem mittelalterlichen Kostüm. Das sonderbare Gewand kam Stella irgendwie vertraut vor. Überwiegend in der Farbe Grün gehalten, bestand es aus einem ledernen Wams, eng anliegenden Hosen und einem dreieckigen Hut mit spitzer Feder. Langsam schien sich das Gesicht zu verändern – oder wurde es einfach nur klarer? Jedenfalls nahm es die Züge ihres Vaters an.
Keine Frage, Salomon musste in einen Robin-Hood-Fanklub eingetreten sein. Jetzt bemerkte Stella auch das Burggemach, in dem sie sich befand. Es war spartanisch eingerichtet. Da gab es an der Wand eine lange Tafel mit vielen brennenden Kerzen darauf, und noch andere Personen standen herum, ebenfalls in Robin-Hood-Kostüme gekleidet, die interessiert – oder besorgt? – zu ihr hinblickten.
Sie öffnete den unangenehm trockenen Mund. Ihre Zunge wollte sich zunächst kaum vom Gaumen lösen.
»Ist das hier ‘n Maskenball, oder was?«, lallte sie.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Robin Hood, der Stellas Vater war.
»Nein.«
Ein weiterer Retter von Witwen und Waisen schob sich in Stellas Gesichtsfeld. »Hi, Stella. Ich bin’s, Dr. Gerrit. Ich werde einmal deinen Puls und Blutdruck messen. Du siehst mir ziemlich blass aus, aber das kriegen wir schon wieder hin.«
Stella bemerkte den grimmigen Blick, mit dem Salomon jede Bewegung des Arztes verfolgte.
»Ich habe Mist gebaut«, sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher