Das Netz der Schattenspiele
Internet.
»Ist tatsächlich ‘ne Mail gekommen«, grummelte er nach einer Weile. Er klickte die Mitteilung an, betätigte per Mauszeiger einen Button, gab ein geheimes Passwort ein und augenblicklich öffnete sich ein Bildschirmfenster. Während Benny sich diskret zurückhielt, beugte sich Stella weit über Salomons Schulter und las das Schreiben ihrer Mutter.
Lieber Mark!
Ich mache mir große Sorgen um dich und um Stella. In was seid ihr da nur hineingeraten? Gestern hat sich ein gewisser Dark Listener mit mir in Verbindung gesetzt. In seiner Mail tat er sehr geheimnisvoll. Ohne deine Vorwarnung hätte ich ihn wohl für einen Spinner gehalten. Lauscher will sich mit mir IRL treffen. Heute noch. Er sagte etwas von einem Flugzeug, das er nehmen müsse, verriet aber nicht, woher er kommen wird. Du hast mir geraten, ihn anzuhören und für das weitere Vorgehen meinen „gesunden Menschenverstand“ zu gebrauchen. Danke für dein Vertrauen. Ich mache mir ernste Sorgen um euch, Mark! Du und Stella, ihr könnt auf mich zählen. Ich hoffe nur, dass ich die richtige Entscheidung treffe.
Viele liebe Grüße
Viviane
»Der Dunkle Lauscher trifft sich mit meiner Frau«, sagte Salomon an Benny gerichtet, während er das E-Mail-Programm beendete und seinen Rechner wieder ausschaltete.
»Wenn ich nur wüsste, was er weiß!«, entfuhr es Stella. Bei dem Gedanken, dieser geheimnisvollen Schattengestalt den Kontakt zu ihrer Mutter vermittelt zu haben, plagte sie noch immer ein ungutes Gefühl.
»Ich bin sicher, wir werden es bald erfahren. Kommt, lasst uns wieder hinausgehen. Wenn die Sicherheitsleute uns hier finden, verderben sie uns womöglich noch den ganzen Nachmittag.«
Die drei verließen das Büro von Salomons Kollegen. Er wolle Tomaso Poggio am nächsten Tag ohnehin einen Besuch abstatten, er würde ihm sein ungefragtes Eindringen bestimmt nicht übel nehmen. Bald begegneten sie wieder den geschäftsmäßig gekleideten Männern vom Secret Service und ihren eher legeren Begleitern.
»Die Leute checken alle Computer und Kommunikationswege«, erläuterte Benny für Stella. »DiCampo hat sich von höchster Ebene die Genehmigung geholt, den ganzen Campus informationstechnisch von der Außenwelt abzuschütten. Du kannst dir vorstellen, was das bei einer Universität mit achttausend Studenten bedeutet. Für die Leitung des MIT dürfte es der reinste Alptraum sein – ungefähr wie die Belagerung von Jericho.«
Stella sah Benny fragend an.
»Der Herr ließ das Volk Israel in die Widderhörner blasen und die ganze Stadtmauer brach zusammen, mit Ausnahme eines kleinen Abschnitts, an dem das Haus Rahabs stand.«
»So schlimm wird das Cyberworm-Team ja wohl nicht wüten«, meinte Stella nachdenklich.
»Vielleicht nicht unsere Leute«, murmelte Salomon, »aber möglicherweise der Cyberwurm.«
In der Nacht zum Montag hatte Stella schlecht geschlafen. Nur bruchstückhaft erinnerte sie sich noch an einen Traum, in dem sie auf der Zinne einer Mauer entlanggelaufen war, während immer gerade knapp hinter ihr ein weiteres Stück des Walles mit Getöse einstürzte. Wie und weshalb sie auf diese Steinmauer geraten war, darauf konnte sie sich keinen Reim mehr machen.
Bereits ab sieben Uhr begann der Campus sich allmählich mit Leben zu füllen. Zuerst kamen vornehmlich MIT-Mitarbeiter, später dann auch Studenten. Die Semesterferien standen kurz bevor. Viele hatten sich schon auf einige ruhige Wochen eingestellt und sahen sich nun unvermittelt aufregenden Ereignissen gegenüber.
Vor dem Komplex 20 gab es einen regelrechten Tumult. Etliche Personen wollten partout nicht einsehen, dass sie nicht an ihre Schreibtische und Versuchsaufbauten durften. Selbst der Hinweis auf eine mögliche Explosionsgefahr schreckte einige entsagungsvolle Wissenschaftler nicht ab.
Währenddessen liefen zwischen den quer stehenden Blöcken 20 d und 20 c die letzten Vorbereitungen für Stellas nächsten Ausflug in den Cyberspace. Hier war ein großer schwarzer Truck abgestellt, der zur Vassar Street hin von den Gebäuden 20 b und 20 f, auf der Campusseite aber durch eine Sichtbarriere aus weißen Kunststoffwänden vor neugierigen Blicken geschützt wurde.
Da das Equipment nicht vor elf Uhr einsatzbereit sein würde, begleitete Stella ihren Vater auf eine Stippvisite zu seinem Bekannten. Sie hätte es nicht ausgehalten, einfach nur dazusitzen und zuzusehen, wie die Checkliste zum abschließenden Funktionstest des Intruders abgearbeitet
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