Das Netz der Schattenspiele
gemacht haben, die unser aller Schicksal verändern könnte. Der Statthalter will dafür sorgen, dass sie in die richtigen Hände gelangt.«
Stella nickte langsam. »Das kann ich mir denken.«
Kaum hatte sie der Hauptmann zu einem Trupp abkommandiert, der den ersten Keil in die fremde Stadt treiben sollte, als ein furchtbares Donnern aufbrandete. Die Erde bebte. Stella wusste, was das bedeutete. Die brennende Stadtmauer von Enesa war eingestürzt und mit ihr der Schutzwall von Masinof!
Sogleich ertönte ein vielstimmiges Kampfgeschrei. Der Truppenführer, dem Stella nun unterstellt war, trieb seine Mannen zum Sturmlauf an. Das Kampfgewicht der Krieger bestimmte dabei die Art ihrer Fortbewegung. Jene, die mit dem meisten Blech behangen waren, überließen es ihren Pferden, sie dem Sieg entgegenzutragen. Die eher leicht gepanzerte Infanterie musste währenddessen darauf Acht geben, von den Schlachtrössern nicht in den Staub getrampelt zu werden.
»Und wohin jetzt?«, fragte der Anführer seine Kundschafterin, nachdem die Trümmer der Mauer überwunden waren.
»Dort lang!« Stella deutete in eine Richtung, die dem zentralen Kuppelbau von Masinof genau entgegengesetzt war.
Unter dem lauten Klappern von Hufen und Rüstungen bahnte sich die Armee ihren Weg. Die Mauern waren bei einem Stadtteil aneinander gestoßen, der dem Hafen genau gegenüberlag. Die wenigen Wissenschaftler und Studenten, denen die Eroberer begegneten, leisteten keine Gegenwehr. Sie ließen einfach nur ihre Bücher und Erfindungen fallen und suchten – dieserart erleichtert und deutlich wendiger als die schweren Krieger – das Weite.
Stella hatte ihrem Frettchen derweil einen Auftrag gegeben, und als Sesa Mina ihr das verabredete Zeichen zuflüsterte, entschwand sie in eine Seitengasse. Von dort rannte sie einen verwinkelten Straßenzug entlang, schlüpfte in ein großes Gebäude, das sie durch einen Geheimgang wieder verließ, und gelangte schließlich in einen Stadtbezirk, der dem herannahenden Heer so fern schien wie der Sommer dem Winter. Der Truppenführer bemerkte Stellas Verschwinden viel zu spät. Unversehens sah er sich mit seiner Abteilung allein gelassen in einer fremden Stadt, in der ihm wohl niemand den richtigen Weg weisen würde.
»Meinst du wirklich, wir haben sie abgehängt, Mina?«
»Für die nächsten paar Stunden bestimmt. Irgendwann werden sie natürlich auch allein den Weg zum Tempelbau finden.«
»Dann lass uns keine Zeit verlieren.«
Stella hatte beschlossen, ihre Suche nach dem Lindwurm dort fortzusetzen, wo sie sie abgebrochen hatte: im Tempel der Wissenschaft. Sesa Mina führte sie durch die Straßen der Stadt. In einigen Vierteln schien die Nachricht vom herannahenden Heer sich bereits wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben – die Menschen liefen schreiend durcheinander, sammelten Waffen und formierten Bürgerwehren –, in anderen dagegen herrschte eine Ruhe wie bei einer Klausurarbeit.
Endlich erreichte Stella das Haus mit der seltsam durchlässigen Wand. Sie schlüpfte in den Tunnel hinab, unterquerte den inneren Grenzwall zum verbotenen Bezirk. Diesen würden die Truppen Enesas nicht so schnell überwinden wie die eingestürzte Außenmauer. Damit hatte Stella einen sicheren Vorsprung gewonnen, genügend Zeit für eine gründliche Suche.
Am Tempel benutzte sie wieder den Geheimgang, der sie in den Keller des Gebäudes führte. Dort schickte sie Sesa Mina los, um nach dem Drachen zu fahnden. Sollte der Tempel nicht der Schlupfwinkel dieses scheuen Wesens sein, dann musste es hier zumindest eine Fährte geben, die das Frettchen aufnehmen und weiterverfolgen konnte. In jedem Fall würden sie, wenn die Eroberer dieses Gebäude stürmten, schon längst über alle Berge sein.
Während Sesa Mina noch durch das weitläufige Kellergeschoss streifte, schlich sich Stella nach oben. Am Ende der Treppe angekommen, spähte sie vorsichtig in die gewaltige Rotunde des Tempels. Sie war so leer wie schon bei Stellas letztem Besuch. Eigentlich hatte sie auch nichts anderes erwartet.
Auf leisen Sohlen begann sie nun die einzelnen Räume zu erkunden, die sich jenseits des Säulengangs an der Peripherie des runden Gebäudes befanden. Nachdem sie zwei Lagerräume, vier Schlafkammern und ein kleines Versammlungszimmer ohne Ergebnis durchsucht hatte, stieß wieder Sesa Mina zu ihr. Der Keller sei leer wie ein Kaninchenbau nach einer Milzbrandepidemie, berichtete das Frettchen.
Gemeinsam erkundeten sie wohl ein gutes Dutzend
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