Das Netz der Schattenspiele
letzte schmale Kanal hinter ihr zurückgeblieben. Ihr langes Boot, das tatsächlich einer venezianischen Gondel glich, trieb geradewegs auf den Koloss zu. Die Figur stand inmitten eines runden Platzes. Von allen Seiten strömten weitere Boote hinzu. Schreie erfüllten die Luft. Mit einem Mal hörte Stella ein Knacken, das ihr durch Mark und Bein ging. Erschrocken fuhr sie herum.
Eines der schrecklichen Flugwesen hatte seine Krallen in ihr Boot geschlagen. Sie schrie auf, was den Unhold in keiner Weise beeindruckte. »Nein!«, verlangte sie lautstark. »Nicht in den Nussknacker. Nur nicht in den Nussknacker!« Ein weiteres Krachen ertönte, und als sie wieder herumwirbelte, erblickte sie noch einen der grässlichen Kerle. Er schien sie mit seinem geifernden Maul anzugrinsen, enthielt sich aber sonst jeden Kommentars.
Schon wurde Stella in die Höhe gerissen. Schneller als jeder Fahrstuhl trugen sie die Schwingen der Unholde dem unersättlichen Rachen des Nussknackers entgegen. Seine Beinkleider waren weiß lackiert, das Wams rot, abgesetzt mit goldenen Tressen, sein immerfort wippender Bart schwarz wie der Tod.
Was sollte sie nur tun? Verzweifelt blickte sie über den Rand ihrer Gondel. Schwindelnd schreckte sie zurück. Ein Sturz in diese Tiefe würde ebenso den Tod bedeuten wie ein längerer Aufenthalt in diesem Boot.
Nun befand sie sich unmittelbar vor dem Maul des Nussknackers. Die aufgemalten Augen des Riesen schauten gleichgültig auf sie herab. Sein finsterer Schlund war unergründlich wie die Tiefen des Universums selbst. Mit Schwung schleuderten die Unholde das Boot auf das Nussknackermaul zu.
Noch einmal schrie Stella. In ihrer Verzweiflung warf sie sich auf die Seite. Das schlanke Wasserfahrzeug ruckte unter ihr und blieb dann wie ein spitzer Zahnstocher senkrecht im offenen Maul des Nussknackers stecken.
Stella befand sich noch an Bord, nur war sie weit ins Heck des Bootes gerutscht. Von dort verfolgte sie mit vor Schreck geweiteten Augen, wie der Nussknacker angestrengt versuchte das Maul zu schließen. Aber es stand zu weit offen, die Hebelwirkung schien nahezu aufgehoben. Zwar war das monotone Malmgeräusch über der Stadt verstummt, dafür vernahm Stella nun ein grauenvolles Knirschen und Knarzen. Wie lange würde das dünne Holz der Gondel diesem Druck noch standhalten? Als sich ziemlich genau in der Mitte des Bootskörpers lange Risse zeigten und das Ächzen des Holzes immer lauter wurde, begann sie wieder zu schreien.
Gleich würde das Boot in tausend Stücke zersplittern, eben doch nur eine Nussschale und nicht mehr. Welche Rettung konnte es da für sie noch geben? Stella brüllte aus voller Kehle ihre Angst hinaus. Da drang plötzlich eine Stimme an ihr Ohr.
»Stella! Sternchen! Nun wach doch auf! Du träumst nur.«
Der Nussknacker war verschwunden.
»He, Sternchen! Komm zu dir. Du hattest nur einen bösen Traum.«
Stella schlug die Augen auf. »Paps?«
»Eben der. Paps, Salomon, Mark, was immer du willst. Nur bitte nicht mehr The Cracker. Der scheint dir ja einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben.« Salomon spielte auf einen weiteren Spitznamen an, den er ob seiner Fähigkeiten, Computerschlüssel zu »knacken«, verliehen bekommen hatte. Er selbst mochte ihn nicht besonders, viel zu »klobig« für ein Akronym.
Stella war noch ganz benommen. Das überdimensionale Schlaf-T-Shirt klebte an ihrem Körper, so nass war sie geschwitzt. »Habe ich im Schlaf von einem Nussknacker gesprochen?«
»Es war nicht sehr deutlich. ›Nicht in den Nussknacker! Nur nicht in den Nussknacker!‹, war alles, was ich verstanden habe.«
Stella erzählte ihrem Vater den ganzen schrecklichen Traum.
»Bestimmt ist die Aufregung der vergangenen Tage an diesem Alptraum schuld. Ich bin ja kein Psychoanalytiker, aber die Bilder, die du gesehen hast, ließen sich damit gut erklären. Ein Nussknacker wird im Englischen auch Cracker genannt – ich hoffe nicht, ich bin die Bestie aus deinem Traum. Die Gefahr, die von dem hölzernen Vielfraß ausging, könnte ein Hinweis darauf sein, dass du dich für die Computervorfälle immer noch verantwortlich fühlst.«
»Also, ehrlich gesagt, tue ich das auch wirklich.«
Salomon nahm seine Tochter in die Arme und versuchte sie zu beruhigen. Er wiederholte seine Argumente, die er schon in Berlin vorgebracht hatte. Sie, Stella, habe sich nur mit einem harmlosen Spiel beschäftigt. Diese schrecklichen Katastrophen jedoch hätten weder sie noch das Kagee zu
Weitere Kostenlose Bücher