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Das Netz der Schattenspiele

Titel: Das Netz der Schattenspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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selbstverständlich wie für andere Menschen der allabendliche Blick in den Fernseher. Früher hatte sie ihren Eltern oft von diesen Träumen wie von spannenden Abenteuerfilmen erzählt. Ihrer Phantasie waren dabei nicht selten ausgesprochen lustige Episoden entsprungen. Doch in dieser Nacht gab es für sie nichts zu lachen.
    Sie blickte aus luftiger Höhe auf eine altertümliche Stadt. Aus weiter Ferne trug der Wind ein rhythmisches Geräusch herüber, das sie nicht zu deuten wusste. Zunächst musste sie beim Anblick der Häuser und Paläste an Venedig denken, denn die belebten Gassen des Ortes waren ausnahmslos Wasserstraßen mit klitzekleinen Booten darauf. Dann fiel ihr auf, dass das Stadtbild von oben herab einem jener Rätselspiele ähnelte, wie man sie häufig in Zeitungen und Magazinen fand: Die Wege und Gassen bildeten ein riesiges Labyrinth. Aus dem Zentrum des seltsamen Gemeinwesens ragte ein monumentaler Turm auf. Erst als sich Stellas Blickwinkel langsam verschob – sie wusste weder, wo sie sich befand, noch interessierte sie diese Frage wirklich –, erkannte sie, was diese luftige Warte wirklich war: Es handelte sich um einen kolossalen Nussknacker.
    Während sie noch die gigantische Figur beobachtete, deren Kopf von allerlei fliegendem Getier umgeben war, kam ihr in den Sinn, was dieses seltsam monotone Geräusch sein konnte. Es erinnerte Stella an das Krachen in ihrem Kopf, wenn sie mit den Zähnen ein Fruchtbonbon zermalmte. Dann wurde sie von einer weiteren Merkwürdigkeit abgelenkt: Alle Kanäle der Stadt führten zum Zentrum, zum Nussknacker hin. Obwohl der Koloss auf einem Berg stand, höher ragend als jedes Gebäude des Ortes, floss doch alles Wasser der Straßen zu diesem Punkt hinauf. Die Stadt selbst war auf hügeligem Terrain errichtet und zog sich in sanften Schwüngen und Bögen über verschiedene Anhöhen hinweg. Doch wo immer die Wasserstraßen auch verliefen, sie strömten, die Schwerkraft ignorierend, am Ende doch immer den Füßen der riesigen Figur entgegen. Das widersprach, zumindest nach Stellas Sicht der Dinge, völlig dem Sinn und Zweck eines Labyrinths, das den Betrachter doch verwirren und am Erreichen des Mittelpunkts hindern sollte.
    Mehr und mehr drängte sich ihr der Eindruck auf, die Kanäle folgten absichtlich ihrem verwirrenden Lauf, weil sie die Füße des Nussknackers nicht berühren wollten. Vielmehr schienen sie wie instinktiv vor einer unbekannten Gefahr zurückzuschrecken. Dann sah es Stella.
    Die Boote, die sie am Anfang nur als undeutliche Punkte wahrgenommen hatte, waren jetzt ganz deutlich zu erkennen. Sie besaßen weder Segel noch Ruder. An ihren Bugplanken gab es auch keine wohlklingenden Namen, sondern nur Tafeln mit nichts sagenden Nummern. Nur Stellas Unterbewusstsein nahm dieses scheinbar unwesentliche Detail wahr, während sie wie gebannt auf das grauenvolle Treiben zu Füßen der Statue starrte. Die schmalen Wasserfahrzeuge wurden, kaum dass sie das Fundament des Kolosses erreichten, von geflügelten Wesen emporgehoben, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. Die vermeintlichen Vögel erwiesen sich als Ausgeburten schrecklichster Phantasien. Von der Gestalt her beinahe menschlich, waren die nackten Wesen mit ihren riesigen Hautflügeln der Inbegriff beispielloser Hässlichkeit. Ihre Fratzen lähmten den Betrachter mit einer Vielzahl triefender Augen, mit eitrigen Beulen und spitzen, wild durcheinander wuchernden Zähnen. Die Geschöpfe waren von der Taille an extrem hager, die Rippen schienen fast die gelbliche Haut zu durchstoßen. Dafür schwabbelten ihre Bäuche unter der faltigen Haut, wirkten so Ekel erregend wie am Strand verendete Riesenquallen. Füße und Hände der Missgeburten waren mit langen, spitzen Krallen ausgestattet, die sie trefflich zu benutzen wussten, um Boote zu packen und in die Höhe zu reißen.
    Stella verfolgte atemlos das infernalische Schauspiel. Die dolchartigen Krallen fraßen sich in das dünne Holz der Wassergefährte. Schreie ertönten. Und obwohl sie keinen der Fahrzeuginsassen zu Gesicht bekam, allenfalls hier und da ein paar vage Schatten ausmachen konnte, wusste sie doch, dass hier Menschen um ihr Leben schrien. Denn die fliegenden Unholde trugen ihre Last geradewegs zum Rachen des Nussknackers empor. Von dorther kam das rhythmische Krachen. Die hölzerne Figur zermalmte die Boote samt Insassen. In diesem Augenblick wurde Stella bewusst, dass sie sich selbst in einem Wasserfahrzeug befand.
    Gerade war der

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