Das Netz der Schattenspiele
ihren Vater unvermittelt sagen. Er sprach englisch und das so laut, als doziere er ohne Mikrofon in einem großen Hörsaal. Vielleicht galten seine Ausführungen ja weniger ihr als den vermuteten NSA-Agenten im Bus, womöglich um klarzustellen, was er von deren Arbeitgeber hielt.
Derlei Sticheleien waren nach Stellas Geschmack. Sie teilte die Abneigung ihres Vaters gegen jede Art von Schnüffelei und fragte deshalb jetzt mit zuckersüßer Stimme, jedoch unüberhörbar: »Wie meinst du das nur, Dad?«
»Präsident Truman persönlich hat die NSA nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen. Als sich die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion mehr und mehr verschärften, glaubte man, eine schlagkräftige Institution aufbauen zu müssen, um die Schachzüge des Gegners zu durchschauen. Die NSA sollte zunächst gegnerische Codes knacken, wurde aber bald zur amerikanischen Informationszentrale im Kalten Krieg. Es hat übrigens nie einen Kongressbeschluss gegeben, der die Gründung der NSA absegnete. Schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass diese Behörde der größte Arbeitgeber für Mathematiker in den Staaten ist! Über Jahrzehnte wurde die Existenz dieses Goliath unter den amerikanischen Geheimdiensten verheimlicht. Wenn man’s genau nimmt, steuern wir also einen ›Verein‹ an, den es gar nicht gibt.«
»Und woher weißt du so viel über die NSA?«, fragte Stella brav.
Salomon lachte schadenfroh. »Dahinter steckt das Problem der Loyalität beziehungsweise Illoyalität. Ein Chef, der seiner Sekretärin abverlangt, ihn am Telefon zu verleugnen, wird irgendwann von ihr selbst belogen werden. Genauso bei Schnüfflern und Spionen. Wenn einer über Jahre hinweg dazu angehalten wird, vertrauliche Dinge auszuplaudern, dann wird er irgendwann auch auf die Geschäftsgeheimnisse seines Arbeitgebers pfeifen.«
»Du meinst also, die eigenen Mitarbeiter haben die Existenz der NSA verraten?«
»Sie haben sogar Bücher darüber geschrieben – bei einem Unternehmen, das zigtausend Leute beschäftigt, eigentlich nicht verwunderlich.«
»Ich finde es trotzdem zutiefst unmoralisch.« Der Dialog mit ihrem Vater hatte Stella die Beinahekatastrophe in New York für einige Zeit vergessen lassen. Sie lebte wieder richtig auf.
Aber prompt kam aus einer der hinteren Sitzreihen der erste Protest. Eines der erst an diesem Tag in Erscheinung getretenen Teammitglieder, ein rothaariger Hüne mit breiten Schultern, stand plötzlich im Mittelgang und machte ein beleidigtes Gesicht.
»Es steht einem Deutschen wohl kaum zu, so zu sprechen!«, sagte er verächtlich und mit drohendem Unterton. »Schließlich waren es doch die Nazis, die das Beschnüffeln argloser Leute perfektioniert haben. Und ihre Verschlüsselungstechniken, vor allem die Enigma-Maschine, haben uns erst dazu gebracht, die eigenen Kryptoanalytiker zu dem zu machen, was sie heute sind: die weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet.«
Agaf Nbugu erhob sich schnell von seinem Sitz und drehte sich zu dem erregten Riesen um. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, meldete sich schon Walter Friedmans energische Stimme.
»Setzen Sie sich wieder hin, John! Der Vergleich mit den Nazis war nicht nur unpassend, sondern auch geschmacklos. Merken Sie denn nicht, dass der Professor Sie nur provozieren will? Aus seiner Sicht hat er nicht einmal Unrecht, gegen die NSA eingenommen zu sein.«
Der Gescholtene knurrte noch etwas Unverständliches, zog sich dann aber auf seinen Sitz zurück.
»Dieser Friedman scheint mehr als nur ein Laufbursche zu sein«, flüsterte Stella ihrem Vater auf Deutsch zu.
Der nickte und entgegnete: »Verlassen wir uns aber lieber nicht auf seine Autorität. Der rote Riese da hinten scheint ein echter Patriot zu sein. Bei einem Faustkampf mit ihm würde ich vermutlich den Kürzeren ziehen. Ich schlage vor, wir verschieben unseren kleinen Dialog auf ein andermal.«
Gerade in diesem Augenblick kündigte ein lautes Quietschen der Bremsen ihre Ankunft im Hauptquartier der NSA an.
Der Bus hielt vor einem Pförtnerhäuschen, das den Zugang zu einem weitläufigen Gelände bewachte. Der Fahrer wechselte mit einem Uniformierten einige Worte und zeigte Ausweispapiere.
»Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass die NSA direkt dem Pentagon unterstellt ist«, raunte Salomon Stella zu und deutete mit seinem Kinn auf den Wachposten am Eingang.
Stella behagte die ganze Situation überhaupt nicht. Obwohl die Bürohäuser, die sie in einiger
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