Das Netz der Schattenspiele
Dokumenten vergreift.«
Während der Posten noch sprach, nahm er vor Stellas Augen vollends Gestalt an. Sie erblickte nun einen blonden Mann mit breiten Schultern und einem Helm auf dem Kopf. In den Händen hielt er eine Hellebarde. Er schien unentschlossen, ob Stella wirklich der von ihm genannten Gattung Mensch zuzuordnen war.
Das Mädchen bückte sich betont langsam und hob den Knüppel auf. »Keine Angst, Kleiner«, sagte sie zu dem fast einen Kopf größeren Wachmann. »Ich will dir deine geheimen Schriften nicht wegtragen. War nur einem vor Schmutz starrenden Burschen auf der Spur, der dich allerdings mehr interessieren sollte als mich. Seltsam nur, wie er so schnell verschwinden konnte.«
»Ich habe niemanden gesehen«, antwortete der Posten. Seine Augen musterten Stella noch immer, aber die frühere Strenge darin war einer gewissen Begehrlichkeit gewichen.
Stella kannte diese Blicke. Sie ließ ihren Knüppel in die geöffnete Handfläche klatschen, was das Interesse des Türstehers sofort merklich abkühlte.
Im Gehen rief sie ihm dann noch über die Schulter zu: »Einen schönen Tag auch, Wachmann. Wenn Ihr den Schmutzfink sehen solltet, bestellt ihm doch viele Grüße von mir. Er hat bei mir ein paar schöne Beulen gut. Bei Bedarf stehe ich gern bereit.«
Sollte der unangenehme Mensch sich doch in einem versteckten Winkel aufgehalten und dem Gespräch zugehört haben, würde er nach dieser kaum misszuverstehenden Drohung hoffentlich von ihr ablassen. Dennoch strebte Stella nun schneller als sonst ihrem Heim entgegen. Während sie an windschiefen Hauswänden und den Fassaden metallisch glänzender Türme vorübereilte, ging ihr der junge Wachmann nicht aus dem Kopf, weniger ob seines anziehenden Äußeren als vielmehr wegen dieser geheimnisvollen Verwandlung, mit der er in Erscheinung getreten war.
Eingeklemmt zwischen zwei anderen, wesentlich größeren Fachwerkgebäuden stand ihr Haus. Stella ging zielstrebig darauf zu, als kenne sie es seit Jahr und Tag – dabei hätte sie noch auf dem Markt nicht einmal den Weg dorthin beschreiben können.
Sie verstaute den einachsigen Karren mit dem Verkaufstisch im Hof und stellte die Käfige mit den lebhaften, aber im Gegensatz zu Sesa Mina sehr wortkargen Iltissen in einem kleinen Schuppen unter, der sich hinter ihrem Haus befand. Nachdem sie die Tiere gefüttert hatte, begab sie sich in ihr Heim.
Immerhin hatte das schmale Anwesen drei Räume: eine Küche im Erdgeschoss, ein kleines Wohnzimmer im ersten Stock und eine noch winzigere Schlafkammer unter dem Dach.
Stella begann wie selbstverständlich mit Stein und Stahl ein Kochfeuer zu entzünden, und bald hing an einem Galgen über der offenen Feuerstelle ein Topf, aus dem es verführerisch duftete.
Jede ihrer Bewegungen wurde aufmerksam von Sesa Mina verfolgt. Während das Mädchen den Speck für den Bohneneintopf klein schnitt, reckte das Frettchen interessiert seine Nase vor. Stella warf ihrer weißen Freundin einen Brocken zu und Sesa Mina schnappte ihn sicher aus der Luft.
»Was wollen wir heute Abend tun?«, fragte Stella nach einer Weile, als folgte sie damit einer alten Angewohnheit.
»Das wirst du bald erfahren«, entgegnete das weiße Tier geheimnisvoll. Es hatte kaum den Satz vollendet, als es laut an der Tür klopfte.
Stella sah fragend zu Sesa Mina hin, die auf dem Tisch saß. Das Frettchen erwiderte ihren Blick, blieb jedoch stumm.
»Wer kann das sein? Ich kenne niemanden hier, der mich besuchen könnte.« Während Stella noch laut über den Urheber des Klopfens nachdachte, war sie bereits an der Haustür angelangt. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, schob den hölzernen Riegel zurück und stellte sich dem Besucher.
Vor ihr stand ein wohlbeleibter Jüngling mit rotblondem Haar, das als Pagenschnitt sein Gesicht umrahmte. Der Junge hatte ein gefüttertes leuchtend blaues Wams mit senkrecht verlaufenden, breiten grünen Steppnähten und einem Stehkragen an, wie es die Diener hoher Herren zu tragen pflegten. Ein strahlend grünes, eng anliegendes Beinkleid und Stoffschuhe, deren lange Spitzen in alberner Weise nach oben gebogen waren, vervollständigten das Bild des eitlen Pfaus. Das geckenhafte Äußere des Burschen stand im auffälligen Kontrast zu seiner ernsten Miene. Er gab sich alle Mühe, wichtig zu wirken, wie jemand, der eilige Nachricht bringt. Die Eile war ihm denn auch an seiner schweißbedeckten Stirn und dem hechelnden Atem deutlich anzumerken.
»Guten Tag, mein
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