Das Netz im Dunkel
Stelle, wo der Schulbus mich absetzte, nach Hause zu rennen. Dort angekommen, suchte ich atemlos nach Sylvia, die die schlimme Angewohnheit hatte, sich immer irgendwo verstecken zu wollen.
Es war eine undankbare, nahezu unmögliche Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte, zu versuchen, Sylvia so zu erziehen, wie man ein normales Kind erzogen hätte. Sie konnte sich nur für äußerst kurze Zeit konzentrieren und niemals still sitzen. Das Schlimmste war, daß Papa Sylvia vollkommen vergaß, sobald er sie mir in den Schoß gelegt hatte. Verzweifelt wandte ich mich an meine Tante und flehte um Hilfe. »Also gut«, willigte sie zögernd ein, »ich verspreche zu tun, was ich kann, solange du in der Schule bist. Aber in dem Augenblick, wo du heimkommst, am Wochenende und in den Ferien ist Sylvia allein deineAufgabe.«
Oft bewahrte ich Sylvia in letzter Minute vor einer empfindlichen Bestrafung durch meine Tante, die das für völlig gerechtfertigt hielt. »Nein!« brüllte ich, raste in die Küche und warf meine Bücher nieder, »benutze diese Rute nicht bei Sylvia! Sie weiß nicht, daß sie nicht einfach alle Chrysanthemen aus der Erde ziehen darf. Sie findet sie hübsch, und sie liebt hübsche, bunte Sachen.«
»Tun wir das nicht alle?« meinte meine Tante ärgerlich. »Ich wollte sie für deinen Vater auf den Tisch stellen. Außerdem hat Sylvia meine Gemüsebeete zertrampelt! Alles, was ich schon fast hätte ernten können, ist ruiniert! Manchmal glaube ich, sie versucht absichtlich, mich so verrückt zu machen, wie sie es schon ist.«
Tränen des Selbstmitleids glänzten in Tante Elsbeths Augen.
Sylvias Zimmer war wie eine Gummizelle. In dem kleinen, jämmerlichen Raum befand sich ein niedriges Bettchen und ein dicker Teppich, auf dem sie sich nicht verletzte, wenn sie fiel.
Manchmal schien es wirklich, als hätte meine Tante recht: Sylvia hätte nie geboren werden dürfen. Aber sie war nun einmal da, und es gab zu meinem Leidwesen nicht viel, was ich für sie tun konnte.
Sylvia war jetzt drei Jahre alt, aber im Gegensatz zu anderen Kindern, die gern mit Bauklötzen und Bällen und Spielzeugautos hantierten, war Sylvia nicht daran interessiert. Sie wußte nichts mit sich anzufangen, konnte nur endlos umherstreifen. Sie kletterte gern, liebte es, zu essen, zu trinken, sich zu verstecken, und das war alles. Ich wußte nicht, wie ich sie erziehen sollte, wenn hübsche Bilderbücher ihre Aufmerksamkeit nicht fesseln konnten und Spielzeug für sie bedeutungslos und sinnlos war.
Selbst wenn ich sie in einem Sessel festband, wackelte sie immer noch mit dem Kopf und vermied es, irgend etwas anzuschauen, was ich ihr zu zeigen versuchte.
Dann, eines wunderschönen Tages, als ich im Schaukelstuhl der ersten unvergessenen Audrina saß, hatte ich plötzlich eine Vision. Ich sah ein kleines Mädchen, das irgendwie aussah wie ich oder die andere Audrina, und es spielte mit Kristallprismen. Das Mädchen saß in der Sonne und fing das Sonnenlicht mit den Kristallen ein. Die Farben, die ein Spiegel reflektierte, verwandelten das ganze Zimmer in ein Kaleidoskop. Auf dem Spielzeugregal der anderen Audrina bemerkte ich tatsächlich ein halbes Dutzend schön geformter Kristallprismen, zwei wie lange Tränen, einen wie einen Stern, einer glich einer Schneeflocke und ein weiterer einem riesigen Diamanten. Ich legte sie zusammen, zog dann die Vorhänge auf und setzte mich auf den Boden, um selbst mit den Prismen zu spielen. Sylvia hatte es sich angewöhnt, mir überallhin zu folgen, wenn ich zu Hause war. Sie war wie ein Schatten, oft so dicht hinter mir, daß ich mit ihr zusammenstieß und sie umwarf, wenn ich mich plötzlich umdrehte.
Die Sonnenstrahlen, die in die Prismen fielen, warfen Regenbogen durchs Zimmer. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Sylvia die Farben interessierten. Sie starrte die Regenbogen an, die durchs Zimmer tanzten. Ich ließ sie über ihr Gesicht tanzen, malte eine Wange rot, eine andere grün, ließ ihr das Licht dann kurz ins Auge blitzen. Es verwirrte sie, blendete sie, und aus irgendeinem Grund schrie sie auf. Sie stolperte vorwärts, stöhnte und grapschte nach den Prismen, wollte sie selber haben.
Ich bin sicher, daß die Dinger in meiner Hand für Sylvia harte, bunte Blumen waren. Sie nahm sie und verkroch sich in einer Ecke, als wollte sie sich vor mir verstecken,und dort versuchte sie, die Farben selbst zum Tanzen zu bringen. Es ging nicht. Ich beobachtete sie, rief ihr im Geiste zu, ins
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