Das Netz im Dunkel
heimzufahren.«
»Ist schon gut«, kam Veras fröhliche Antwort. »Ich hab’s gerade geschafft, den Stachel selbst herauszuziehen.«
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, lächelte sie und zog ihr knappes Oberteil nach unten. »Ich brauchte nichts weiter als einen guten Spiegel. Danke, daß ich Ihre Pinzette benutzen durfte, Mr. Rensdale.«
Warum war sein Gesicht so rot? Dann sah ich Veras zufriedene Miene und erriet, daß sie ihren BH vor ihm hochgeschoben und den Stachel entfernt hatte. Wenn da überhaupt einer gewesen war.
Von diesem Tag an bemerkte ich kleine Vertraulichkeiten zwischen den beiden. Er schien sich um meinetwillen zurückhalten zu wollen, aber ebenfalls meinetwegen wollte Vera unbedingt zeigen, welcher Art ihre Beziehung war. Wenn sie mit dem Klavierspiel an der Reihe war, bemühte sie sich, eine kindliche Weise zu klimpern…die ihn zusammenzucken ließ…und oft löste sich der Träger ihres Oberteils, oder ihr Tennisrockrutschte so hoch, daß man ihr Höschen sah. Sie flirtete mit Blicken, Gesten, mit der Art, wie sie sich sorglos hinsetzte, einladend, ihm auf alle nur mögliche Art klarmachte, daß sie freigebig war–wenn er sie wollte, und wann immer er sie wollte. Ich fing wieder an, sie zu verabscheuen. Sie erzählte Witze, die mich erröten ließen, und Mr. Rensdale saß mit niedergeschlagenen Augen da, scheinbar sehr müde. Er sah immer so müde aus. »Das ist die Hitze«, erklärte er, als ich ihn fragte. »Das Klima beraubt mich jeder Energie.«
»Ach, heben Sie sich bitte noch ein bißchen auf, Mr. Rensdale«, flötete Vera. »Bloß genug, damit das Vergnügen nicht zu kurz kommt.«
Er sagte nichts, stand lediglich auf und reichte mir die Unterlagen für die Hausaufgaben. »Ich hoffe, euer Haus ist nicht so feucht wie dieses hier.«
Vera gab er nichts, aber sie tauschten mit Blicken eine geheime Nachricht aus.
»Die Zimmer sind herrlich kühl«, zirpte Vera, »aber oben ist es genauso heiß und feucht wie hier. Ich würde die ganze Zeit nackt herumlaufen, wenn Papa und meine Tante dann nicht einen Anfall kriegen würden.«
Ich starrte Vera an. Einmal in all der Zeit, während einer langen Hitzeperiode, war unser Haus im Obergeschoß stickig gewesen, aber doch nicht so heiß, daß irgend jemand hätte nackt sein müssen.
Die Sommertage streckten sich dahin, heiß und feucht, und gelegentlich machte ich einen Ausflug an den Strand. Ich durfte mit Arden beisammensitzen, und Papa blieb in der Nähe und beobachtete, was wir miteinander trieben. Vera weigerte sich, irgendwohin zu fahren, wo Papa war, und meine Tante hatte zuviel zu tun, um Zeit für ein Vergnügen zu haben. Sylvia krabbelte durch den Sand. Siesah gänzlich anders aus als die anderen Kinder in ihrem Alter und ihrer Größe. Sie konnte ihr Sandeimerchen nicht füllen, obwohl sie es geduldig immer wieder versuchte; sie hatte nicht genug Verstand, um vor den Wellen davonzulaufen, die sie hätten packen und ins Meer hinausziehen können. Arden und ich waren es, die wieder und wieder hinter ihr herliefen und sie retteten. Papa räkelte sich unter einem riesigen, bunten Sonnenschirm und beäugte all die hübschen Mädchen.
Bald lernte ich, daß Sylvia alles aß, sogar Gras. Sie kroch im Haus herum, auch draußen, stand auf und stolperte durch die Gegend, stieß immer wieder gegen irgend etwas. Wie durch ein Wunder zerbrach sie nach dem ersten Tag nichts mehr. Wenn man sie auch nur ein paar Sekunden lang im Garten allein ließ, wanderte sie davon und verlief sich. Einmal, nachdem ich sie eine Stunde lang verzweifelt gesucht und gerufen hatte, fand ich sie unter einem Baum sitzend und wilde Erdbeeren essend. Sie sah so unschuldig aus wie ein Engel–ohne Verstand. Des Nachts schrie sie und bewies damit, daß ihre Stimmbänder in Ordnung waren und sie eines Tages auch sprechen könnte, wenn es mir je gelingen sollte, ihr schlafendes Gehirn zu wecken. Sie aß, indem sie ihr Essen nach unzähligen Versuchen ungeschickt mit den Händen aufnahm und dann alles, was sie in der Hand hielt, in den Mund stopfte. Leider gelang es ihr nie beim ersten Versuch; sie verfehlte ihr Ziel mindestens zweimal, ehe sie ihre Hände zum Mund führen konnte.
Am Ende jeder Mahlzeit sah Sylvia furchtbar aus; die Speisen klebten ihr überall im Gesicht, im Haar, in den Nasenlöchern. Ein Lätzchen half überhaupt nichts. Sie ließ fallen, verschüttete, erbrach sich häufig, vor allem, wenn sie Gras gegessen hatte. Aber das Schlimmste–schlimmer als
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