Das Netz im Dunkel
immer schreiend holte ich aus, schlug nach ihm. Dann hatte er auch meinen anderen Arm, und ich war gefangen, obwohl ich mich weiterhin wehrte und um mich trat. »Was, zum Teufel, ist mit dir los, Audrina?«
Es war Arden, der mich festhielt. Seine bernsteinfarbenen Augen kamen näher, als er mich in seine Arme zog. Sein Haar klebte an der Stirn. »Ist ja alles gut. Ich bin es doch bloß. Warum zitterst du so? Du solltest nicht hier draußen auf der Schnellstraße entlanggehen, das weißt du doch. Warum hast du nicht angerufen?«
Meine Zähne klapperten so sehr, daß ich nicht sprechen konnte. Was war los mit mir? Es war doch Arden. Warum verspürte ich den Wunsch, ihn zu schlagen? Er schüttelte verständnislos den Kopf, als er mich zu seinem Wagen führte. Ich kauerte mich auf dem Beifahrersitz zusammen,rückte ins äußerste Eck, weil ich nicht in seiner Nähe sein wollte. Er machte die Heizung an, so hoch, daß es ihm bald zu heiß wurde–aber ich fror immer noch.
»Du wirst krank«, sagte er, als er mich ansah. »Du siehst schon ganz fiebrig aus. Audrina, warum bist du ins Dorf gegangen? Ich habe gehört, daß Mr. Rensdale letzte Nacht nach New York abgereist sei.«
»Er…ja…ist er.«
Ich nieste, dann erzählte ich ihm von Vera. »Ich glaube, sie ist die Frau, die er mitgenommen hat. Papa kriegt einen Anfall. Er weiß, daß sie fortgelaufen ist, aber er hat keine Ahnung, daß sie mit meinem Musiklehrer durchgebrannt ist.«
Ich schauderte und fühlte die Gänsehaut auf meinen Armen unter dem dicken Mantel.
»Sei vorsichtig«, meinte Arden, als er mich aussteigen ließ. Er beugte sich vor und küßte mich leicht auf die Wange. Da hätte ich am liebsten wieder geschrien. »Mach dir um Vera keine Sorgen. Sie weiß schon, wie sie zurechtkommt.«
Ich lag vier Tage lang mit einer schweren Grippe im Bett; Zeit genug, um über Vera und Lámar Rensdale nachzudenken. »Glaubst du, er heiratet sie?« flüsterte ich meiner Tante eines Abends nach dem Essen zu.
»Nein«, erklärte sie mit Bestimmtheit, »niemand heiratet ein Mädchen wie Vera.«
Das neue Jahr fing an, und obwohl Vera aus unserem Leben verschwunden war, war sie doch alles andere als vergessen. »Damian«, fing meine Tante eines Morgens an, »warum fragst du nie nach Vera? Vermißt du sie? Machst du dir Gedanken darüber, wo sie ist und was ihr zustoßenkönnte? Sie ist doch erst sechzehn. Macht es dir überhaupt nichts aus?«
»Also schön«, sagte Papa, faltete säuberlich die Morgenzeitung zusammen und legte sie neben seinen Teller. »Ich will nicht nach Vera fragen, weil ich nicht will, daß du mir irgend etwas erzählst, was ich nicht hören will. Ich vermisse sie nicht. Das Haus hier ist jetzt ein viel hübscherer Ort. Ich mache mir auch keine Sorgen um sie. Sie hat mir Grund genug gegeben, sie zu verabscheuen. Wenn sie getan hat, was ich glaube, und ich habe guten Grund, dies anzunehmen, dann könnte ich ihr den Hals umdrehen. Aber du hast sie sogar dann noch beschützt, hast versucht mich zu überzeugen, daß sie nicht so verdorben sein kann. Ich war ein Narr, zuzulassen, daß du sie beschützt. Jetzt gib mir die Butter. Ich glaube, ich werde noch ein Brötchen essen und eine Tasse Kaffee trinken.«
Ich wollte fragen, was Vera getan hat, daß er ihr den Hals umdrehen wollte. Aber ich hatte schon gelernt, daß weder er noch meine Tante jemals Fragen beantworteten, außer um mit Gegenfragen herauszufinden, an was ich mich noch erinnerte. Ich konnte mich nicht an Vera erinnern, als sie jünger als zehn gewesen war oder zwölf, oder welches Alter sie auch immer gehabt hatte, als mein Gedächtnis wieder zu arbeiten begann.
»Zweifellos ist sie mit diesem Taugenichts von Klavierspieler fortgelaufen«, sagte Papa mit vollem Mund. »Im ganzen Dorf geht das Gerücht; alle rätseln, wer die Frau gewesen ist, mit der er mitten in der Nacht fortgefahren ist.«
Er warf mir einen kurzen Blick zu, dann lächelte er lobend. »Audrina, ich weiß, daß dir klar ist, was passieren kann, wenn man mit Jungs herumspielt. Und wenn du mir sonst kein Wort mehr glauben solltest, so glaube mirwenigstens das–versuche besser nicht dasselbe Spiel. Dir würde ich bis ans Ende der Welt folgen, um dich dorthin zurückzuholen, wohin du gehörst.«
In mancher Hinsicht war das Leben ohne Vera im Haus sehr viel angenehmer. Trotzdem fragte ich mich, wie sie mit einem Mann zurechtkam, der sie nicht gewollt hatte.
Jeden Tag fragte ich meine Tante: »Hast du von Vera
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