Das Netz im Dunkel
antwortete ich mit merkwürdiger, zögernder Stimme, so daß Vera die Augen aufriß.
»Wohin sind denn all die Männerpuppen verschwunden, Audrina?« flüsterte sie mit einer so unheimlichen Stimme, daß ich schauderte.
»Ich weiß nicht«, flüsterte ich zurück, irgendwie verängstigt. Mit furchtsamen Augen blickte ich mich schnell um. Klimperklimper machten die Mobiles über mir, während sie ganz ruhig hingen. Ich verkrampfte mich innerlich noch mehr. »Ich dachte, du hättest sie dir genommen.«
»Du bist ein böses Mädchen, Audrina. Wirklich, ein böses Mädchen. Eines Tages wirst du herausfinden, wie böse, und dann wirst du sterben wollen.«
Sie kicherte und wich zurück.
Was stimmte nicht mit mir, daß sie mich immer wieder verletzen wollte? Oder stimmte mit ihr etwas nicht? WürdenwirdieGeschichtewiederundwiedernachvollziehen, wie meine Mutter und ihre Schwester?
Veras bleiches Gesicht grinste mich boshaft an. Es schien alles Böse zu zeigen. Als sie den Kopf wandte, spielten die Farben auf ihrem Haar. Ihr aprikosenfarbenes Haar wurde erst rot, dann blau mit lila Streifen. »Gib mir deine ganzen Puppen, auch wenn die besten schon zur Hölle gefahren sind.«
Sie streckte sich, um ein halbes Dutzend der Puppen an sich zu reißen, die ihr am nächsten waren.
Blitzschnell riß ich ihr die Puppen aus den Händen. Dann sprang ich auf die Füße, lief umher und sammelte alle anderen Puppen ein. Vera kroch mir nach, um meine Beine mit ihren langen Fingernägeln, die immer messerscharf zugefeilt waren, zu zerkratzen. Aber es gelang mir, sie von mir fernzuhalten, indem ich einen Fuß gegen ihre Schulter stemmte, während ich die restlichen Puppen einsammelte. Jetzt hatte ich beide Hände voll, stieß Vera mit dem Fuß an, daß sie auf den Rücken fiel, und hastete auch schon mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Wendeltreppe hinab. Ich war sicher, daß sie mich nicht einholen konnte. Doch da hörte ich sie direkt hinter mir. Sie kreischte meinen Namen, befahl mir, stehenzubleiben. »Wenn ich falle, ist das deine Schuld, ganz allein deine Schuld!«
Sie fügte noch ein paar schmutzige Worte hinzu, die ich nicht verstand.
»Du liebst mich nicht, Audrina«, hörte ich sie heulen. Die harten Sohlen ihrer Schuhe klapperten über die Metallstufen. »Wenn du mich wirklich wie eine Schwester lieben würdest, dann würdest du tun, was ich will, und mir alles geben, was ich haben möchte, um mich für den Schmerz zu entschädigen, den ich erdulden muß.«
IchhörtesiestehenbleibenundnachLuftringen.
»Audrina, wag ja nicht, diese Puppen zu verstecken! Wag es ja nicht! Sie gehören mir genauso wie dir!«
Nein, das taten sie nicht. Ich war es, die sie in einer alten Truhe gefunden hatte. Es gab eine Regel, daß der Finder die Fundsache behalten darf, und ich glaubte an Regeln und Maximen. Sie waren alt und im Laufe der Zeit erprobt.
Es war leicht, mich vor Vera zu verstecken, als sie unbeholfen die steile, schmale Treppe hinabstieg. Ich stopfte die Puppen und all ihre farbenprächtigen Kostüme unter ein loses Bodenbrett, als ich Vera schreien hörte.
O je! Sie war schon wieder gestürzt. Ich lief zu ihr. Sie lag zusammengekrümmt am Boden, das eine Bein grotesk abgewinkelt. Es war das linke Bein, das Bein, das sie schon zweimal gebrochen hatte. Ich fuhr zurück, als ich ein Stück Knochen aus dem Fleisch ragen sah. Blut spritzte aus der Wunde.
»Es ist deine Schuld«, stöhnte sie. Ihr hübsches Gesicht war vor Schmerz verzerrt und häßlich. »Es ist deine Schuld, weil du mir nicht gegeben hast, was ich haben wollte. Es ist immer deine Schuld, wenn mir etwas Schlechtes zustößt, immer nur deine Schuld. Manchmal sollte mir jemand das geben, was ich haben will.«
»Ich gebe dir die Puppen jetzt«, sagte ich leise, angesichts ihres Schmerzes bereit, ihr alles zu geben, was sie haben wollte. »Ich laufe nur schnell deine und meine Mutter holen, ehe–«
»Ich will deine verdammten Puppen nicht mehr!« schrie sie. »Hau bloß ab, und laß mich in Ruhe! Wenn du nicht wärst, hätte ich alles haben können. Eines Tages wirst du für alles bezahlen, was du mir gestohlen hast, Audrina. Ich sollte die Erste und Beste sein, nicht du!«
Mir war ganz übel, als ich sie so allein zurücklassenmußte, wie sie dalag, das Bein gebrochen, blutend. Dann bemerkte ich, daß auch ihr linker Arm merkwürdig verdreht war. O Gott! Er war auch wieder gebrochen. Jetzt hatte sie ein gebrochenes Bein und einen gebrochenen Arm. Aber
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