Das Netz im Dunkel
ist, um zu helfen.«
Ich drehte mich auf die Seite und schloß die Augen. Ihm den Rücken zuzudrehen war meine Art, ihm zu verstehen zu geben, er solle mich in Ruhe lassen. Schnell zog er mich an sich, so daß sich mein Körper eng an den seinen schmiegte. Unser Atem kam im Gleichklang, sogar, als seine unbeherrschten Hände anfingen, die Kurven abzutasten, die er wieder und wieder fühlen wollte.
»Sei nicht eifersüchtig auf Vera, Liebling«, flüsterte er und bewegte sich so, daß er seine Wange an meiner reiben konnte. »Du bist es, die ich liebe, nur du.«
Und noch einmal mußte ich es dulden, daß er es mir bewies.
Thanksgiving Day kam und ging, und Vera blieb. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde forderte Papa sie nicht mehr auf, das Haus zu verlassen. Ich vermutete, daß er sah, welch große Hilfe sie für Billie war, während ich Sylvia beibrachte zu reden, zu laufen, sich allein anzuziehen, zu kämmen, sich allein Gesicht und Hände zu waschen. Langsam, ganz langsam, kam Sylvia aus ihremKokon. Mit jeder neuen Aufgabe, die sie meisterte, blickten ihre Augen klarer. Sie gab sich wirklich Mühe, ihre Lippen zusammenzuhalten, nicht zu sabbern. In gewisser Weise war es, als würde ich mich selbst finden, als ich ihr alles beibrachte, was sie wissen mußte.
Im Spielzimmer der ersten und unvergessenen Audrina schien sie am besten zu lernen. Sie saß auf meinem Schoß, während wir zusammen schaukelten und ich ihr aus einfachen Büchern für ganz kleine, zwei- und dreijährige Kinder vorlas. Mit den Puppen und Stofftieren als Kameraden saßen wir manchmal an dem kleinen Kindertisch und aßen, und dort nahm Sylvia zum erstenmal einen winzigen Löffel in die Hand und rührte Tee in einer kleinen Tasse um.
»Und eines Tages, sehr bald schon, wird Sylvia ihr eigenes Messer und ihre eigene Gabel nehmen und sich selbst ihr Fleisch schneiden.«
»Fleisch schneiden…«, wiederholte sie nachdenklich und versuchte, Messer und Gabel zu nehmen und so zu halten, wie ich es ihr vormachte.
»Wer ist Sylvia?«
»Wer…wer iss…«
»Sag mir deinen Namen. Das möchte ich hören.«
»Sag mir…dein Namen… «
»Nein. Wie ist dein Name?«
»Nein…wie iss dein Name…«
»Sylvia, du machst das heute wirklich wundervoll. Aber versuch doch einmal über das nachzudenken, was ich sage. Alles hat einen Namen, sonst wüßten wir doch nicht, wie wir einander rufen sollen oder wie wir einen Stuhl von einer Lampe unterscheiden können. Nimm mich, zum Beispiel. Mein Name ist Audrina.«
»Meei…Name…isss…Aud…driiin…naa.«
»Ja, mein Name ist Audrina. Aber dein Name ist Sylvia.«
»Jaaa…meei…Name…«
Ich nahm den Handspiegel der ersten Audrina, der auf der kleinen Fensterkornmode lag, hielt ihn vor Sylvias Gesicht und deutete darauf. »Sieh mal da, in dem Spiegel, das ist Sylvia.«
Dann hielt ich den Spiegel so, daß mein Gesicht reflektiert wurde, und wieder ließ ich sie hineinschauen, damit sie sehen konnte, was ich ihr begreiflich zu machen versuchte. »Das ist Audrina da im Spiegel.«
Gleichzeitig deutete ich auf mich. »Audrina.«
Ich wies auf mich, hielt den Spiegel dann so, daß sie ihr eigenes Gesicht sehen konnte. »Das ist Sylvia. Du bist Sylvia.«
Ein Flackern leuchtete in ihren wasserblauen, hübschen Augen. Sie riß sie auf, starrte den Spiegel an. Dann grapschte sie danach, bewunderte ihr Spiegelbild, hielt den Spiegel so dicht vors Gesicht, daß ihre Nase platt gedrückt wurde. »Syl…viii…ahh. Syl…viii…aahh.«
Wieder und wieder sagte sie das, lachte, sprang auf und tanzte ungeschickt herum. Sie preßte den Spiegel an ihre schmale Brust und strahlte vor Glück. Schließlich, nach vielen Wiederholungen, sagte sie es richtig. »Mein Name ist Sylvia.«
Ich lief zu ihr, um sie zu umarmen, zu küssen, sie mit den Keksen zu belohnen, die ich in einer Schublade versteckt hatte.
Ich drehte mich mit den Keksen um und stellte fest, daß alles Glück aus Sylvias Augen verschwunden war. Sie war erstarrt. Ihre Augen waren leer, ihre Lippen klafften,Speichel lief aus ihrem Mund. Sie war wieder stumm.
Vera stand in der Tür.
Sie hatte den Ausdruck eines Engels, als sie uns beide ansah. Lämmer zum Schlachten, schoß es mir durch den Kopf.
»Geh, Vera«, befahl ich kalt, eilte zu Sylvia, um sie zu schützen. »Ich habe dir schon oft gesagt, du sollst nicht hierherkommen, wenn ich Sylvia unterrichte.«
»Dummkopf!« fuhr sie mich an, marschierte ins Spielzimmer und setzte sich in den
Weitere Kostenlose Bücher