Das Netz im Dunkel
ich dort stand und sie im Schlaf beobachtete. Ich hatte Angst um sie und das kleine Baby, das weder Junge noch Mädchen war. Vera erzählte mir die ganze Zeit, daß es ein ›Neutrum‹ sein würde wie eine Puppe. »Ohne etwas zwischen den Beinen«, lachte sie. »Das kommt manchmal vor. Ist eine Tatsache. Eines der bizarren Dinge, die in der Natur vorkommen. Steht in meinen Medizinbüchern.«
Monatliche Krämpfe, die Vera ans Bett fesselten, gaben mir Gelegenheit, zu Arden und Billie zu laufen. Arden und ich picknickten unter den Bäumen, breiteten alles auf rotweiß karierten Tischtüchern aus. Niemals hatte ichAngst vor ihm. Als er mich schließlich berührte, befühlte er mein Haar. Ich hatte nichts dagegen.
»Wann hast du Geburtstag?« fragte er eines Tages, während ich auf dem Rücken lag und durch die Baumwipfel nach oben starrte und versuchte die Wolken zu sehen, die wie Segelschiffe über den Himmel zogen. »Am neunten September«, antwortete ich unglücklich. »Ich hatte eine ältere Schwester, die genau neun Jahre vor meiner Geburt gestorben ist. Sie hieß genau wie ich.«
Bis ich das sagte, hatte Arden versucht, aus einem winzigen Rad eine Beule herauszuklopfen. Jetzt hörte er mit dem Hämmern auf und starrte mich merkwürdig an. »Eine ältere Schwester? Die genauso hieß wie du?«
»Ja. Man hat sie tot im Wald gefunden, unter einem Goldregenbaum. Deswegen sollte ich auch niemals hierherkommen.«
»Aber du bist hier«, seine Stimme klang sonderbar. »Wie kannst du es wagen, zu kommen?«
Ich lächelte. »Ich würde alles wagen, um Billie zu besuchen.«
»Meine Mutter? Nun, das ist nett, aber was ist mit mir?«
Da drehte ich mich auf die Seite, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. »Ach, ich glaube, dich kann ich in Kauf nehmen.«
Ich drehte mich wieder um, blinzelte zu ihm hinüber. Da saß er im Schneidersitz in seiner kurzen, weißen Hose, mit nacktem Oberkörper, der im Sonnenschein schimmerte. »Na ja«, meinte er, hob den Hammer wieder auf und schickte sich an, das kleine Rad weiter zu bearbeiten, »ich glaube, daran kann man erkennen, daß du noch eine Menge lernen mußt, ehe du erwachsen bist oder aber, daß du genauso bist wie deine Schwester.«
»Sie ist nicht meine Schwester, sondern meine Cousine, Arden. Meine Eltern taten nur so, als wäre sie meine Schwester, um meine Tante vor der Schande zu bewahren. Meine Tante ist fortgegangen und zwei Jahre später zurückgekehrt. Damals war Vera erst ein Jahr alt. Meine Tante war so sicher, daß Veras Vater nur einen Blick auf sein Baby werfen und sich in seine Tochter verlieben würde. Aber es ist nicht so gekommen. Während meine Tante fort war, hat er eine andere geheiratet.«
Arden sagte kein Wort. Er lächelte bloß, um mir zu zeigen, daß es ihm egal war, wer Vera war.
Arden liebte seine Mutter mehr, als ich es bei einem Jungen je für möglich gehalten hätte. Wenn sie ihn rief, sprang er auf und lief ins Haus. Er hängte die Wäsche auf, nahm sie ab. Er schleppte die Abfalleimer, etwas, was mein Papa nie tun würde. Arden hatte feste Grundsätze über Ehrbarkeit, Treue und darüber, daß man denen helfen mußte, die Hilfe benötigten; aber auch über Pflichten und Ergebenheit; außerdem hatte er noch etwas, über das er niemals sprach, das ich aber trotzdem bemerkt hatte. Er schien Schönheit eher und stärker zu empfinden als andere Leute. Er konnte im Wald stehenbleiben und stundenlang arbeiten, um schließlich ein Stück Quarz auszugraben, das aussah wie ein riesiger, rosa Diamant. »Ich werde daraus einen Anhänger für das Mädchen machen lassen, das ich eines Tages heiraten werde. Ich weiß nur noch nicht, welche Form er haben soll. Was meinst du, Audrina?«
Als ich den Quarz in die Hand nahm und hin und her drehte, war ich neidisch auf das Mädchen, das er eines Tages heiraten würde. Der Stein hatte viele Einbuchtungen, aber in seiner Mitte waren die Farben so hell und klar, daß er einer Rose ähnelte. »Warum nicht wie eine Rose? Die voll erblühte Blume, nicht nur eine Knospe.«
»Also schön, eine Rose«, sagte er und schob den Stein in die Tasche. »Eines Tages, wenn ich reich bin, werde ich dem Mädchen, das ich liebe, alles schenken, was sie sich je erträumt hat. Und für meine Mutter werde ich dasselbe tun.«
Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Bloß kann man mit Geld nicht kaufen, was sich meine Mutter am meisten wünscht.«
»Und was ist das? Oder ist das eine zu persönliche Frage?«
»Ja, sehr
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