Das Netz im Dunkel
Kind eineChance zu überleben.«
O Gott, ich hoffte, das Baby würde genügend Zeit bekommen, um fertig entwickelt zu sein, mit Haaren und kleinen Fingernägeln und Zehennägeln. »Wie lange dauert es, bis ein Baby geboren ist?« fragte ich schüchtern.
»Bei jemandem wie Lucietta wird es sicher den ganzen Tag dauern und morgen auch noch sehr lange. Sie liebt es doch, auch noch aus der einfachsten und natürlichsten Sache etwas Schwieriges und Schmerzhaftes zu machen.«
Tante Elsbeth verzog ihre dünnen Lippen zu einem gemeinen, jungfräulichen Lächeln. »Sie ist ihr Leben lang verwöhnt worden, nur weil sie zufällig hübscher geboren wurde als die meisten Mädchen.«
»Hat Papa angerufen und gesagt, daß Mammi starke Schmerzen hat? Hat er gesagt, daß sie das Baby verliert?«
Ich hätte sie gern angeschrien, weil sie so wenig sagte, wo es doch um meine Mutter und meinen Bruder oder meine Schwester ging. Der schwere Klumpen in meiner Brust wog immer mehr und wurde immer größer. Der Regen sagte tatsächlich Unheil voraus. Der Alptraum der vergangenen Nacht blitzte durch meine Gedanken. Diese Knochenmenschen…
»Audrina ist auch verwöhnt«, bemerkte Vera, »und dabei ist sie nicht einmal die hübscheste Tochter.«
Ich versuchte, das grausige Zeug hinunterzuschlucken, das meine Tante zusammengepanscht hatte–sie erklärte, daß ich damit Fleisch auf die Knochen bekommen würde. Vera kicherte, als sie das hörte.
Der Speck wurde in den Abfall geworfen. Er war so verbrannt, daß selbst meine Tante ihn nicht essen wollte. Wütend beschwerte sich Vera über die Omelettes, die meine Tante schmackhaft zu machen versuchte. »Puh, es wird schwer werden, das Essen jetzt noch zu genießen, woMammi nicht da ist, um es zuzubereiten.«
Vera betonte das Wort ›Mammi‹ ganz besonders, nur um ihre eigene Mutter zusammenzucken zu sehen. Aber Tante Elsbeth versuchte so zu tun, als hätte sie die Spitze nicht bemerkt.
Ich war es, die die Küche putzte, während meine Tante vor ihrem Fernseher saß, und ich war es auch, die den Boden fegte, als Vera davoneilte, um sich für die Schule anzuziehen. Während ich den Herd putzte, fragte ich mich, ob ich hübscher war als Vera und ob ich wenigstens halb so schön war wie die erste und unvergessene Audrina. Ich vermutete, daß das nicht der Fall sein konnte, nach allem, was ich über ihre strahlende, durchsichtige, ätherische Schönheit gehört hatte.
»Du bleibst jetzt daheim und gehst nicht in den Wald«, warnte mich meine Tante aus dem anderen Zimmer, als sie hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde. »Es regnet. Und das letzte, was dein Vater gesagt hat, bevor er wegfuhr, war, daß ich auf dich aufpassen und dich nicht fortlaufen lassen soll. Wenn es aufhört zu regnen, kannst du im Hof spielen–aber geh nicht weiter.«
»Was hat er meinetwegen gesagt?« rief Vera, bereit, um zu der Stelle zu laufen, wo der Schulbus sie aufnehmen würde. Sie trug einen gelben Regenmantel und hatte die Kapuze übers Haar gezogen.
»Damián hat dich überhaupt nicht erwähnt.«
Wie kalt die Stimme meiner Tante klingen konnte, wenn sie es wollte! Sie machte sich nicht viel aus ihrer eigenen Tochter. Ich lächelte vor mich hin. Es erschien mir so albern. Oft hatte ich heimlich einen Blick in den Fernseher geworfen, den meine Tante so selbstsüchtig für sich behielt. Ich wußte, daß die Leute in den Fernsehserien auch manchmal außereheliche Kinder hatten.
»Du kannst Audrina nicht trauen, wenn es um Arden Lowe geht«, rief Vera haßerfüllt. »Besser, du schließt die Türen ab und verriegelst die Fenster. Sonst läuft sie bestimmt zu ihm. Warte nur ab; früher oder später läßt sie ihn…«
»Laß ich ihn was?« fuhr ich sie wütend an.
»Vera, kein Wort mehr! Lauf, bevor du deinen Bus verpaßt!«
Neidisch sah ich Vera nach, wie sie zur Schnellstraße stapfte, und das Wasser in jeder Pfütze aufspritzen ließ. Ehe sie um die Kurve bog, drehte sie sich noch einmal nach mir um und machte mir eine lange Nase. Vera verschwand, aber ich stand immer noch da, dachte an Mammi, hoffte, daß sie nicht zu arge Schmerzen haben und nicht viel Blut verlieren würde. Schmerzen schienen immer mit einer Menge Blut verbunden zu sein. Das wußte ich schon. Aber es gab auch geistige Schmerzen. Und die waren vielleicht die schlimmsten, weil niemand außer einem selbst sie bemerkte.
Warum rief Papa nicht an und sprach mit mir? Ich wollte wissen, was vorging. Ich hielt mich so lange in der Nähe
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