Das Netz im Dunkel
des Telefons auf, bis der Regen aufhörte und das stille, düstere Haus mir auf die Nerven ging.
Dann ging ich zum Fluß hinunter. Im schwachen Sonnenschein unter einem blassen, ausgewaschenen Himmel, warf ich Kiesel in den Fluß, wie ich es meinen Papa hatte tun sehen. Eine Woche ohne Mammis Kochkünste–ich würde abnehmen, und dabei war ich schon so dünn.
Den ganzen Tag über rief Papa nicht an. Ich machte mir Sorgen, ging im Zimmer auf und ab, lief immer wieder ans Fenster. Vera kehrte heim und beschwerte sich, daß der Gemüseeintopf nicht schmeckte, den Tante Elsbeth zumAbendessen vorbereitet hatte. Dann sah ich Arden unsere Auffahrt entlangradeln. Eine riesige Kiste war auf seinem Fahrrad befestigt. Ich lief hinaus zu ihm, denn ich hatte Angst, meine Tante könnte meinem Vater von seinem Besuch erzählen.
»Herzlichen Glückwunsch!« rief er und grinste, als er vorn Rad stieg und zu mir gelaufen kam. »Hab’nur eine Sekunde Zeit aber ich habe dir etwas gebracht, was meine Mutter für dich gemacht hat. Und dann noch eine Kleinigkeit von mir.«
Hatte ich ihm erzählt, daß ich heute Geburtstag hatte? Ich glaubte es nicht. Ich hatte es ja selbst bis gestern nicht einmal gewußt. Seine Augen blickten warm und leuchteten, als ich in die größere Schachtel griff. Darin lag ein wunderschönes veilchenfarbenes Kleid mit weißem Kragen und Manschetten. Ein kleiner Strauß Seidenveilchen war am Ausschnitt befestigt.
»Mammi hat es für dich genäht. Sie sagt, sie kann jeden mit den Augen messen. Gefällt es dir? Glaubst du, daß es dir paßt?«
Impulsiv warf ich die Arme um ihn. Ich war so glücklich, daß ich hätte weinen können. Niemand sonst hatte sich an meinen Geburtstag erinnert. Er schien verlegen und entzückt über meine Reaktion. Dann reichte er mir hastig eine kleinere Schachtel. »Es ist nicht viel, wirklich, aber du hast mir doch gesagt, du hättest Schwierigkeiten, dich an alles zu erinnern, und würdest deshalb Tagebuch führen. Ich habe überall nach einem gesucht, was in der Farbe zu Mammis Kleid paßt, aber es gibt keine Tagebücher in Violett. Deshalb habe ich dir ein weißes mit Veilchen darauf gekauft. Und wenn du gegen fünf zu uns kommen könntest–Mammi hat einen Geburtstagskuchen für dich. Wenn du nicht kommen kannst, bringe ich ihn dir.«
Ich wischte mir über die Augen und schluckte meine Freudentränen hinunter. »Arden, das Baby kommt heute. Meine Mutter ist schon vor Morgengrauen fort, und wir haben noch kein Wort von ihr gehört. Ich komme, wenn Papa anruft und mir sagt, daß es Mammi und dem Baby gutgeht. Wenn nicht, kann ich nicht fort.«
Vorsichtig, als hätte er Angst, ich könnte schreien oder mich wehren, umarmte er mich kurz. »Mach dir keine Sorgen. Babys werden alle paar Sekunden geboren, Millionen Tag für Tag. Es ist eine ganz natürliche Sache. Ich wette, deine Tante hat deinen Geburtstag ganz vergessen, was?«
Ich nickte und senkte den Kopf, damit er den Schmerz nicht sah, den ich fühlte. Das hübsche, kleine Tagebuch, das er mir geschenkt hatte, hatte einen goldenen Schlüssel, mit dem ich meine Geheimnisse verschließen konnte. Oh, ich hatte eine Menge Geheimnisse, die selbst mir nicht bekannt waren.
»Ich warte am Waldrand auf dich, sobald ich die Zeitungen ausgetragen habe. Ich bleibe dort, bis die Sonne untergeht, und wenn du nicht kommst, bringe ich dir deinen Geburtstagskuchen hierher.«
Das konnte ich nicht zulassen. Papa würde es herausfinden. »Morgen komme ich ganz bestimmt. Dann können wir feiern. Sag Billie vielen Dank für das Kleid. Ich finde es sehr hübsch. Und danke für das schöne Tagebuch. Es ist genau das, was ich mir gewünscht habe. Warte nicht am Waldrand. Schreckliche Dinge passieren im Wald, vor allem an diesem Tag. Ich möchte nicht, daß du nach Einbruch der Dunkelheit noch dort bist.«
Der Blick, den er mir zuwarf, schien gequält, sonderbar und voll von etwas, das ich nicht verstand. »Bis später, Audrina. Ich bin froh, daß du neun Jahre alt bist.«
Damit fuhr er fort, und ich blieb zurück, fühlte mich aber nicht mehr so allein und unglücklich wie zuvor.
Das von meiner Tante zubereitete Essen war so geschmacklos, daß selbst sie ohne großen Appetit aß. Noch immer kam kein Anruf von Papa. »Er ist ein schrecklicher Mann«, sagte Vera, »selbstsüchtig, und er denkt nie an irgend jemanden außer an sich und seine eigenen Gefühle. Ich wette, er sitzt in diesem Augenblick in einer Bar und gibt Drinks aus. Und ich
Weitere Kostenlose Bücher