Das Netz im Dunkel
richtig pflegt–das heißt, wenn überhaupt jemand von uns weiß, was normal ist.«
Ich war auf alles gefaßt gewesen, nur nicht auf das. Blind, taub, lahm, damit wäre ich fertig geworden, dachte ich. Aber nicht hiermit. Ich brauchte keine zurückgebliebene Schwester, um mein Leben noch komplizierter zu machen.
In diesem Augenblick drehte ich mich um und sah, daß Sylvia gefährlich nah an der Treppe war. Ich stürzte vorwärts und packte sie gerade noch rechtzeitig. »Papa, du hast doch gesagt, sie könnte sehen!«
»Kann sie auch. Außerdem ist sie sehr intuitiv. Sie wäre nicht gefallen. Sie ist wie ein wildes Tier, das mit Hilfe seines Instinkts überlebt. Hab sie ein bißchen lieb, Audrina, auch wenn du sie nicht sehr lieben kannst. Sie braucht jemanden, der gut zu ihr ist, und wenn du jede streunende Katze und jeden Hund ins Herz schließen, jeden verletzten Vogel pflegen kannst, dann kannst du auch deine Schwester lieben und für sie sorgen, solange sie dich braucht.«
Ich starrte in sein volles, hübsches Gesicht empor, in dem gerade die ersten Fältchen auftauchten. Ein bißchen Silber zeigte sich an seinen Schläfen. Ich war noch keine zwölf Jahre alt, und er übertrug mir die Verantwortung für ein Kind, das für immer ein Baby bleiben würde.
Papa hatte mir oft gesagt, daß ich schlau wäre, daß ich alles tun könnte, was ich mir in den Kopf gesetzt hätte. Jetzt sagte er, ich würde Sylvia schon bald sauber haben. Liebe konnte mehr ausrichten als Berufserfahrung. Mitaufgerissenen Augen konnte ich ihn nur weiter anstarren, als er nun erklärte, daß ich ihr auch beibringen würde, richtig zu sehen, die Lippen zu kontrollieren, anständig zu laufen, zu sprechen. Ich konnte nicht aufhören, Sylvia zu beobachten, die mühsam auf Händen und Knien die fünf Stufen hinabkroch. Unten stand sie auf und stolperte im Hof herum. Ein paarmal versuchte sie, eine Kamelie vom Busch zu pflücken. Die Farbe schien sie anzuziehen, und als sie sie schließlich in ihrer kleinen Hand hielt, versuchte sie, sie an die Nase zu halten und zu riechen. Sie wußte nicht genau, wo ihre Nase war, oder wenn sie es wußte, dann wußte sie nicht, wie sie sie erreichen konnte. Ich war gerührt, entsetzt und erfüllt mit Mitleid. In der kurzen Zeit, die sie jetzt hier war, hatte sie es geschafft, ihr Kleid schmutzig zu machen, ihre Schuhe so zuzurichten, daß sie nicht mehr zu reparieren waren, und ihr hübsches Haar hing ihr zottelig ins Gesicht.
Ich war hin- und hergerissen. Sylvia tat mir leid. Ich wollte sie und wollte sie auch wieder nicht. Ich liebte sie, aber vielleicht fing ich auch schon an, sie ein kleines bißchen zu verabscheuen. Wochen später vermutete ich, daß ich, hätte man mir in diesem Augenblick eine Wahl gelassen, sie wieder zurückgeschickt hätte, dorthin, woher sie gekommen war.
Aber Sylvia war hier, und ich war für sie verantwortlich. Vielleicht brauchte ich sie nicht, wollte ich sie nicht, aber um meiner geliebten Mutter willen würde ich mich um Sylvia kümmern, selbst wenn das bedeutete, daß ich auf die Freiheit verzichten mußte, die ich vielleicht gehabt hätte, wenn sie nicht geboren worden wäre.
Als ich sie jetzt beobachtete, faßte etwas Zartes, Liebendes nach mir und trieb mich voran auf dem Weg zur Reife. Ich eilte die Treppe hinab und riß sie in meine Arme. Mehr als ein dutzendmal küßte ich sie auf ihrerunden Bäckchen. Ich hielt den kleinen Kopf in meiner Hand und fühlte das seidige Babyhaar.
»Ich werde ich liebhaben, Sylvia! Ich werde deine Mutter sein. Von nun an sollst du nie wieder schlecht behandelt werden. Eines Tages wirst du von mir lernen, wie du deine Blase kontrollieren kannst und wie man eine Toilette benutzt. Ich werde dich retten, Sylvia. Ich glaube einfach nicht, daß du zurückgeblieben bist, du bist nur körperlich nicht trainiert. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, werde ich mir neue Wege ausdenken, wie ich dir beibringen kann, was du wissen mußt. Es gibt eine Möglichkeit, dich zu einem normalen Menschen zu machen. Ich weiß, daß es sie gibt.«
Schwestern
An diesem Abend hob mich Papa zum letzten Mal auf seinen Schoß. »Du wirst erwachsen, Audrina. Mit jedem Tag bist du mehr eine Frau. Ich sehe die Veränderungen, die mit deinem Körper vorgehen, und ich hoffe, daß deine Tante dir erklärt hat, wie man mit gewissen Situationen fertig wird. Von nun an werde ich dich nicht mehr so knuddeln können wie heute. Die Menschen denken oft böse Sachen–aber selbst
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