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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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MORGAN
    Washington/​Paris/​Istanbul
    September   – November 1979
    35  «Guten Tag, Herr Antaramian.»
    «Einen wunderschönen guten Tag! Wie es mich freut, Sie hier zu treffen. Ich habe Sie ja schon so lange nicht mehr gesehen.»
    «Was haben Sie denn gerade vor?»
    «Ich bin auf dem Weg zum neuen Geschäft von Henry Seigle, um mir etwas zum Anziehen für die Arbeit zu kaufen. Möchten Sie vielleicht mitkommen?»
    «Ja, ich glaube, ich komme mit. In dem Geschäft war ich auch noch nicht.»
    «Es ist ein beeindruckendes Bauwerk – das größte in Boston.»
    «Da sind wir ja schon, gehen wir doch hinein.»
     
    Anna Barnes las diesen Dialog in einem armenisch-englischen Lehrbuch. Sie gab sich Mühe, die armenische Version zu verstehen, die neben der englischen Übersetzung stand. Das Buch hatte sie vor Jahren einmal auf einem Flohmarkt in Somerville gekauft und es als Kuriosität aufbewahrt, als hübsches Stück Treibgut, das von fremden Küsten zu ihr gespült worden war. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie einmal praktischen Nutzen daraus ziehen würde. Doch jetzt, während sie in den Dutzenden von Personalakten und Beobachterberichten, die Marjorie ihr auf den Schreibtisch gepackt hatte, nach einem armenischen Rekrutierungskandidaten suchte, schien es plötzlich, als könnte ihr das alte Sprachlernbuch doch noch gute Diensteleisten. Sie blätterte zu dem Kapitel mit der Überschrift:
Zufällige Begegnung auf der Straße
.
    «Guten Tag, Agnes. Wohin wollen Sie denn gerade?»
    «Guten Tag, Herr Giragosian. Ich bin auf dem Weg in die Kirche. Möchten Sie mich nicht begleiten?»
    «Nein, vielen Dank, ich bin auf dem Weg zum Strand.»
    «Ach, kommen Sie doch mit. Es wird immer so schön gesungen bei uns in der Kirche, und der Pfarrer predigt zu dem Vers aus dem Römerbrief ‹Denn der Tod ist der Sünde Sold›. Er ist ein sehr eleganter junger Herr und ein großer Rhethoriker. Kommen Sie mit, dann mache ich Sie mit ihm bekannt.»
    «Nun, aber ich bin kein Protestant, ich bin gregorianischen Glaubens.»
    «Das macht doch nichts, schließlich sind wir alle Christen. Kommen Sie mit, mir zuliebe.»
    So zogen sich die Dialoge über Seiten hinweg, voller Hinweise aus allen Lebensbereichen für den armenischen Neuankömmling in Amerika. Der Autor, ein gewisser E.   A.   Yeran, hielt Vorschläge für Gespräche mit der Einwanderungsbehörde bereit – «Werden Sie eine bestimmte Adresse aufsuchen?» «Ja, Sir, ich gehe auf direktem Weg zu meinem Onkel.»   –, Tipps für das Anmieten eines möblierten Zimmers (drei Dollar im Monat galt als zu teuer, selbst wenn das Zimmer über drei Fenster, eine Dampfheizung und elektrisches Licht verfügte) und für den Kauf eines Anzugs unter zehn Dollar – man sagte dem Verkäufer einfach: «Ich möchte eine gedeckte Farbe, auf der man den Schmutz nicht sieht, weil ich den Anzug bei der Arbeit tragen möchte.» Es gab sogar ein Beispiel für eine Unterhaltung in einer chinesischen Wäscherei:
    «Guten Tag, John. Ich möchte meine Wäsche abholen.»
    «Haben Sie Zettel?»
    «Ach herrje, den Zettel muss ich wohl verloren haben. Er ist nicht mehr in meiner Tasche.»
    «Kein Zettel, keine Wäsche. Amelikanel ständig vellielen Zettel.»
     
    Und so durchstöberte Anna ihre Akten auf der Suche nach einer modernen Version von Herrn Antaramian oder Herrn Giragosian, um ihn in ihre Operation einzuspeisen. Allmorgendlich erschien Marjorie mit einer neuen Ladung Unterlagen aus dem Archiv, die am Nachmittag um vier Uhr dreißig wieder nach Langley zurückgebracht werden mussten. Anna fragte sich, wie Stone diesen Materialfluss überhaupt in Gang gebracht hatte. Die Personalakten enthielten die richtigen Namen und Lebensgeschichten aller Agenten und gehörten damit zu den sensibelsten Daten, die der Geheimdienst zu bieten hatte. Selbst wenn man sie nur für ein paar Stunden aus dem Archiv holen wollte, brauchte man dazu die Erlaubnis der allerhöchsten Ebene der Personalabteilung.
    Abgesehen von Marjorie war das Karpetland-Büro in letzter Zeit auffallend leer. Sämtliche Kisten waren verschwunden, nach Istanbul, Peschawar, Dubai und an weitere geheimnisvolle Orte verschickt worden. Auch Taylor war fort, und das stellte Anna vor ein ernsthaftes Problem. Sie vermisste ihn. Diese irrationale Seite der Liebe – die Veränderungen im Hormonhaushalt, und die Schmerzen, die das bereiten konnte. Und sie ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte man sich als feministisch geschulte

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