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Dezember wurde über dreizehn Provinzen das Kriegsrecht verhängt. Die tägliche Zahl terroristisch motivierter Morde lag bald im zweistelligen Bereich, und es rückte in den Bereich des Möglichen, dass sich in der Türkei 1979 dasselbe abspielen könnte wie ein Jahr zuvor im Iran.
Warum ließ Amerika das zu? Das fragten sich viele Türken. Konnte denn wirklich niemand etwas tun? Der amerikanische Botschafter in Ankara schickte eine scharf formulierte Mitteilung nach Hause: «Unsere Unfähigkeit, den Fall des Schah im Iran zu verhindern, hat die türkischen Bedenken hinsichtlich unserer Verlässlichkeit als Bündnispartner massiv verstärkt. Es entsteht hier der Eindruck, dass die USA gegenüber der Sowjetunion an Stärke verlieren.» Deutlicher konnte man das in der Welt der Nadelstreifenanzüge kaum formulieren, doch es zeigte keinerlei Wirkung. Wann immer zu Hause in Amerika das Thema Türkei angeschnitten wurde, schienen sich alle lediglich für Menschenrechtsfragen zu interessieren.
Weil Taylor nicht wusste, was er seinen türkischen Freunden sagen sollte, hielt er bei Diskussionen meistens den Mund. Ende Januar sprach ihn dann der Generalstabschef der türkischen Luftwaffe auf einer Party in Istanbul direkt an, erklärte ihm, dass er die Situation im Iran als ein einziges strategisches Desaster empfinde, und wollte wissen, weshalb Amerika nichts dagegen unternehme. «Darüber darf ich nicht reden», antwortete Taylor, was den General zu beruhigen schien. Die Amerikanertaten also doch etwas dagegen, sie durften nur nicht darüber reden.
Weil Taylor ein Optimist war, öffnete er jeden Morgen freudig seine Arbeitsmappe und erwartete, in dem schier endlosen Strom bürokratischer Anweisungen und Memoranden doch noch einen ungeschliffenen Edelstein der Einsicht zu entdecken, einen neuen Aktionsplan oder zumindest ein Anzeichen dafür, dass irgendwer im Wasserkopf der Zentrale wenigstens eine Ahnung davon bekommen hatte, was da draußen in den abgelegeneren Winkeln der Welt vor sich ging. Obwohl er so gut wie immer enttäuscht wurde, ging er am nächsten Tag aufs Neue zwar nicht von Hoffnung, doch wenigstens von Neugier erfüllt an seine Arbeit. Er wartete darauf, dass etwas geschah, was ihm eine Entscheidung abverlangte und ihn zwang, die verstreuten Puzzlestückchen seines Lebens wieder zusammenzufügen. Und eines Tages Ende Januar war es dann tatsächlich so weit.
Dabei hatte der Tag ziemlich mies begonnen, als eine frisch entschlüsselte Anweisung aus der Zentrale auf den Schreibtisch flatterte. Taylor hatte sie zuerst für einen Scherz gehalten, eine feinsinnige Parodie auf den bürokratischen Morast, in dem die CIA in den vergangenen Jahren immer tiefer versunken war. Die recht ausführliche Mitteilung stammte von «Edward J. Ganin», was der Deckname von Charles «Chuck» Hinkle war, dem neu ernannten CI A-Direktor . Sie war über seinen speziellen Kommunikationskanal versandt worden, dessen Mitteilungen offiziell unter dem Kryptonym LWSURF liefen, schon jetzt aber von allen nur «Chuckogramme» genannt wurden.
«Zielorientiertes Management» stand als Überschrift über dem langen Memorandum, das Taylor mit fassungslosem Staunen überflog. Es las sich wie das verzweifelt um Ernsthaftigkeitbemühte Geschwätz, mit dem man auf Dale Carnegies Seminaren konfrontiert wird, und enthielt unter anderem einen Zehn-Punkte-Plan für besseres Management («Punkt 6: Delegieren wagen!») und ein Motto, das man sich fett ausgedruckt über den Arbeitsplatz hängen sollte: HART, ABER FAIR – DAS CREDO DES MANAGERS! Als sich Taylor bis zur letzten Seite durchgearbeitet hatte, fand er dort einen «Aktionsplan», der verlangte, dass jedes CI A-Büro auf der ganzen Welt eine detaillierte Liste seiner gegenwärtigen «Ziele» aufstellen und dafür sorgen solle, dass sie mit der Liste der Hauptziele zu Hause in der Zentrale konform gingen. Wer diese Anweisung ernst nahm, der hatte viele Tage harter, sinnloser Schinderei vor sich. Taylor beschloss deshalb, erst einmal seinen direkten Vorgesetzten Stanley Timmons anzurufen, den CI A-Bürochef bei der Botschaft in Ankara.
«Sind die zu Hause jetzt völlig verrückt geworden?», fragte er frei heraus.
«Wie meinen Sie das?», fragte Timmons zurück. Er war ein freundlicher Mann, der kurz vor der Pensionierung stand und deshalb nirgendwo mehr anecken wollte. Wenn er nicht gerade die Abhörposten der CIA am Schwarzen Meer besuchte, fand man ihn meistens auf dem
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