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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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den aktuellen Problemen im Nahen Osten und in Zentralasien. Wir arbeiten mit Universitäten, amerikanischen Behörden und ähnlichen Einrichtungen zusammen.»
    «Darf ich Ihnen dazu gleich eine Frage stellen?»
    «Natürlich.» Anna hoffte inständig, dass man ihr ihre Beklommenheit nicht anmerkte.
    «Arbeiten Sie für die Türken?»
    «Nein», antwortete sie, zutiefst erleichtert, dass das seine einzige Sorge war.
    «Gut», sagte Antoyan mit einem angedeuteten Lächeln. «Wenn Sie für die Türken arbeiten würden, hätte mir das nämlich Sorgen gemacht. Aber da Sie keine Türkin und auch keine Armenierin sind, muss ich Sie noch einmal fragen: Woher das Interesse an der armenischen Frage?»
    Anna entschied sich für die ehrliche Antwort. Sie erzählte ihm von ihrer Mitbewohnerin in Radcliffe, Ruth Mugrditchian, und von ihren Geschichten, von der Großtante, die sich mit der Bibel in der Hand durch die syrische Wüste geschleppt hatte, und dem anderen Verwandten, der nur am Leben geblieben war, weil man ihn in einem Brunnen versteckt hatte. Diese Erzählungen, erklärte sie ihm, hätten das Interesse für diesen düsteren Teil osmanischer Geschichte in ihr geweckt.
    «Ach ja», sagte der armenische Arzt. «So fangen im Grunde alle an, sich für Armenien zu interessieren. Wir sind einfach die perfekten Opfer.» Er schloss die Augen. Wie jedes Kind in Armenien war auch er mit ähnlichen Geschichten vom Genozid aufgewachsen. Und ganz offensichtlich hatte er keine Lust, siesich an diesem Abend noch einmal anzuhören, während er hier in einem Café in St.-Germain saß und mit einer hübschen Amerikanerin plauderte.
    «Das tut mir leid», sagte Anna. «Aber ich interessiere mich keineswegs nur wegen der Opferrolle für Armenien.» Sie war wütend auf sich selbst, weil sie zu direkt und ungeschickt vorgegangen war, und versuchte, sich die Ratschläge ihrer Ausbilder in Erinnerung zu rufen, die schon so viele Monate zurücklagen. Behutsam vorgehen, den Gesprächspartner das Tempo bestimmen lassen. Ihm Gelegenheit geben, auf seine Weise zu sagen, was ihm wichtig ist. Doch Aram Antoyan schien sich an ihrem plumpen Vorgehen nicht zu stören. Er trug das ironische Lächeln eines Mannes zur Schau, der wild entschlossen ist, sich selbst noch auf einer Begräbnisfeier zu amüsieren.
    «Wenn Sie sich tatsächlich für die armenische Frage interessieren», sagte er, «dann müssen Sie Radio Eriwan hören. Da kriegen Sie auf alles eine Antwort.»
    «Nur zu gern – aber was ist Radio Eriwan?»
    «Das kann doch nicht sein! Sie haben wirklich noch nie von der weltberühmten armenischen Radiostation Eriwan und ihren Antworten auf die Fragen der Zuhörer gehört?»
    «Nein, tut mir leid.»
    «Radio Eriwan beruft sich auf das althergebrachte Wissen unseres Volkes. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Frage an Radio Eriwan lautet: Welche Stadt ist die älteste und schönste der UdSSR? Und Radio Eriwan antwortet: Die älteste und schönste Stadt der UdSSR ist Eriwan.
    Daraufhin wird weiter gefragt: Und wie schnell könnte man Eriwan mit einer Atombombe zerstören? Und Radio Eriwan antwortet: Tbilisi ist ebenfalls eine sehr alte und schöne Stadt.»Anna wurde klar, dass er sie auf den Arm nahm. «Und was hätte Radio Eriwan zur armenischen Frage zu sagen?»
    «Radio Eriwan würde antworten, dass auch die georgische Frage von einiger Bedeutung sei.»
     
    Es war ein lauer Septemberabend, und Doktor Antoyan schien es nicht eilig zu haben, deshalb bestellten sie weitere Drinks und plauderten über Amerika, Filme, moderne Medizin und die Werke von Solschenizyn. Es schien kein Thema zu geben, über das Doktor Antoyan ungern redete. In dieser Hinsicht war er der typische Vertreter jener neuen sowjetischen Generation, die Ende der Siebziger ins Ausland zu reisen begann. Diese jungen Leute waren aufgeschlossen und überraschend selbstbewusst, allen voran die Wissenschaftler und medizinischen Forscher, die sich genau wie ihre westlichen Kollegen als Mitglieder einer internationalen intellektuellen Gemeinschaft betrachteten und für kleingeistige Verbote nur Verachtung übrig hatten. Nach zwei Stunden charmanter Konversation hatte Anna jedoch das Gefühl, wieder zum eigentlichen Thema zurückfinden zu müssen. Sie suchte nach einer geschickten Überleitung, fand aber keine.
    «Erzählen Sie mir von Armenien», sagte sie abrupt. «Wie ist es dort?»
    Aram lächelte. «Es ist einfach nur ein Land wie jedes andere, mit ganz normalen Freuden und Problemen. Es

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