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naheliegendste Szenario zur Anwerbung entschieden. Sie würde sich dem armenischen Arzt als ehemalige Doktorandin aus Harvard vorstellen, die inzwischen für eine Stiftung zur Förderung kultureller und historischer Studien im Nahen Osten und Zentralasien tätig war. In dieser Funktion konnte sie ihm seine Ansichten zur armenischen Frage ganz inoffiziell entlocken, ihn bitten, vielleicht einen kleinen Aufsatz darüber zu schreiben (für den sie ihn fürstlich bezahlen würde), und ihn anschließend fragen, ob er nach seiner Rückkehr nach Eriwan zu weiteren Forschungen bereit sei. Und schließlich, wenn bis dahin alles gut gelaufen war, würde sie diealles entscheidende Frage stellen. Stone konnte keine Einwände gegen ihren Vorschlag finden. Es war ein Standardverfahren zur Rekrutierung, das genau so oder mit kleineren Varianten im Lauf der Jahre bereits bei Hunderten von Studierenden aus dem Ostblock und der Dritten Welt angewandt worden war.
Als Vermittlungsperson, die den Kontakt herstellen sollte, wählte Anna eine junge französische Journalistin namens Danielle Marton. Sie hatte ihren Namen in den Akten gefunden, die die Aufbauarbeiten im Jahr zuvor dokumentierten. Marton war die ideale Vermittlerin: Unter dem Kryptonym UNWILLOW arbeitete sie als mehr oder weniger eingeweihte externe Agentin für das Pariser Büro, und weil ihr Mann ebenfalls Arzt war, kannte sie Antoyan bereits, seit der Armenier 1977 nach Paris gekommen war.
Stone hatte Anna den Kontakt zum Pariser CI A-Büro verboten, und so rief sie Danielle Marton einfach direkt an und lud sie zum Mittagessen ein. Sie dachte sich irgendeine kleine Geschichte aus, woher sie Danielles Namen hatte, und verschwieg natürlich auch, dass sie für den Geheimdienst arbeitete; das alles überließ sie der Phantasie der französischen Journalistin, die sicherlich sehr viel lebhafter und überzeugender war als alles, was Anna sich jemals hätte ausdenken können. Sie stellte ein paar allgemeine Fragen über den sowjetarmenischen Arzt, und am Ende der Verabredung schlug Danielle Marton selbst vor, ein Treffen zu arrangieren.
Sie verabredeten sich für den späten Nachmittag in einem ruhigen Café ein paar Straßen vom Boulevard St.-Germain. Anna und Danielle waren etwas früher gekommen und diskutierten gerade angeregt eine der großen Fragen des zwanzigsten Jahrhunderts (Wie hatte sich die Feministin Simone de Beauvoir bloß so abgöttisch in Jean-Paul Sartre verlieben können?), alsDoktor Aram Antoyan hereinkam. Er war ein attraktiver Mann Anfang dreißig, mittelgroß, mit dunklem Teint, pechschwarzem Haar und einem dichten, schwarzen Bart. Er trug Jeans und ein Tweedsakko über dem blauen Arztkittel und hätte problemlos auch als Assistenzarzt einer amerikanischen Klinik durchgehen können, wäre da nicht ein unverkennbar armenisches Merkmal gewesen: die großen schwarzen Augen, die wie unergründliche Teiche voller Leid und Erinnerungen wirkten, selbst wenn er lächelte.
Danielle stellte die beiden einander vor, und der junge Armenier gab sich, trotz sichtlicher Erschöpfung nach dem langen Arbeitstag, große Mühe, sich von seiner charmantesten Seite zu zeigen. Er flirtete mit Danielle, mit der er ja befreundet war, machte ihr Komplimente über ihr Kleid und erkundigte sich nach ihrem neuesten Artikel. Anna gegenüber war er reservierter und fragte sich offensichtlich, was sie wollte, wartete aber höflich ab, bis sie von selbst auf ihr Anliegen zu sprechen kam. Sie unterhielten sich auf Französisch, doch selbst in dieser oft so manierierten Sprache äußerte er sich mit einer Direktheit und Klarheit, die besser zum Englischen gepasst hätte. Nach einiger Zeit verabschiedete sich Danielle, weil sie das Abendessen für ihren Mann, den Arzt, vorbereiten musste. Anna ließ das Gespräch noch etwa zwanzig Minuten lang dahinplätschern, dann wagte sie einen ersten Vorstoß.
«Ich interessiere mich für die armenische Frage», sagte sie, um zu erklären, weshalb sie um dieses Treffen gebeten hatte.
«
La question arménienne
», wiederholte Antoyan und ließ die französischen Worte fast genüsslich über die Lippen gleiten. «Ein fatales Thema. Offenbar ist es das Schicksal der Armenier, kein Volk zu sein, sondern eine Frage. Was interessiert Sie denn an dieser traurigen Angelegenheit?»
«Ich arbeite für eine Stiftung», begann Anna.
Antoyan musterte sie skeptisch und zog die dichten schwarzen Brauen in die Höhe.
«Meine Stiftung beschäftigt sich mit
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