Das Netzwerk
richten. Und sie fühlte sich furchtbar. Sie wollte mit keiner Menschenseele reden, nicht einmal mit dem netten türkischen Zimmermädchen, das offenbar Mitleid hatte, weil Anna allein war. Sie ließ sich das Abendessen aufs Zimmer bringen, sah sich eine Quizshow im türkischen Fernsehen an und vertiefte sich dann in ihr mitgebrachtes Buch,
Die Rubáiyát des Omar Khayyam
, das ihr Vater ihr vor Jahren geschenkt hatte, als sie mit dem Osmanistikstudium begann. Nach dem siebten Vierzeiler schlief sie ein.
Auch am nächsten Morgen rief sie Ascari noch nicht an. Sie fühlte sich immer noch desorientiert. Dabei kannte sie sich eigentlich gut aus in Istanbul. Zwei Jahre zuvor hatte sie den ganzen Sommer hier verbracht, im Archiv für ihre Doktorarbeit recherchiert und dabei die Stadt erkundet – aber damals war sieauch noch eine unschuldige, leicht gelangweilte Doktorandin, die Istanbul als Spielwiese betrachtete. Ein völlig anderes Leben.
Beim Frühstück, das sie sich ebenfalls aufs Zimmer bringen ließ, beschloss Anna, ihren alten Lieblingsort aufzusuchen: das Basbakanlik-Archiv, wo sie damals gearbeitet hatte, und die kleine Teestube dort, wo sie den türkischen Professor kennengelernt hatte. Vielleicht konnte sie sogar ein paar Recherchen über die osmanischen Beziehungen zu den alten Adelshäusern von Baku anstellen. Danach, davon war sie überzeugt, würde sie sich gefestigt genug fühlen, um Ali Ascari anzurufen.
«
Topkapi Sarayi, lütfen
», sagte sie dem Taxifahrer, und nachdem sich der Wagen zwanzig Minuten lang durch den dichten Straßenverkehr geschlängelt hatte, hielten sie vor den Mauern des Topkapi-Palasts. Anna ging die letzte Strecke zu Fuß bis zu dem grauen Betonklotz, der die Archivalien der Großwesire, der obersten Minister im Osmanischen Reich, beherbergte. Sie liebte das trostlose Gebäude, weil es für sie all das enthielt, was Istanbul so geheimnisvoll und zugleich so lächerlich erscheinen ließ. Am Eingang zeigte sie ihren alten Benutzerausweis vor und ging dann direkt in den Lesesaal.
Der Lesesaal des Basbakanlik-Archivs sah aus, als wäre er der Phantasie eines orientalischen Charles Dickens entsprungen. Das Zepter dort führte eine alte Frau, die von den ausländischen Gastforschern nur «der Dragoner» genannt wurde und deren größte Freude offenbar darin bestand, Wissenschaftlern den Zugang zum Archivmaterial zu verweigern. Häufig brauchte sie sich da gar nicht weiter zu bemühen, denn der Katalog war so willkürlich und planlos zusammengestellt, dass es schon ein Kunststück war, überhaupt etwas darin zu finden. Währendder paar Jahrzehnte, als die Deutschen den großen Bruder der Türkei spielten, hatten sie sich an einer Neukatalogisierung der Archivalien versucht, doch selbst sie hatten schließlich das Handtuch geworfen. So kam es, dass das Archiv Tausende und Abertausende handgeschriebener Dokumente in osmanisch-türkischer Schrift beherbergte, die teilweise bis ins 14. Jahrhundert zurückgingen, von denen aber kein Mensch wusste, wo genau sie sich befanden. Sicher war nur, dass alle politisch sensiblen Unterlagen – mit anderen Worten alles, was von Konflikten mit Armeniern, Bulgaren oder Griechen handelte – aus den Regalen entfernt worden waren.
Nicht, dass man als Forscher überhaupt Zugang zu diesen Regalen gehabt hätte. Das verstieß gegen die Vorschriften. Der Dragoner schickte einen Untergebenen in die Tiefen der Lagerräume, wo die allermeisten Dokumente aufbewahrt wurden, um den gewünschten Band herbeizuschaffen – vorausgesetzt, er konnte überhaupt gefunden werden und war dann auch zur Einsicht freigegeben. Und es gab noch etliche weitere Möglichkeiten, gegen Vorschriften zu verstoßen. An der Wand des Lesesaals prangte eine hochoffizielle Liste mit sage und schreibe einundzwanzig auf Rechtstürkisch formulierten Verboten. «Es ist untersagt, im Lesesaal Kugelschreiber zu verwenden. Nur Bleistifte sind gestattet, mit Ausnahme der Bestellformulare, die mit Tinte auszufüllen sind.» «Forschenden ist es untersagt, die Türkei für länger als einen Monat ohne offizielle Genehmigung zu verlassen.» In dem Stil ging es endlos weiter, doch das waren beileibe noch nicht alle Vorschriften. Diverse andere standen nirgendwo geschrieben – die hatte man schlicht zu erraten.
Anna ließ den Blick durch den Lesesaal schweifen, der sich in den letzten zwei Jahren kein bisschen verändert hatte. Die einundzwanzig Reglementierungen hingen immer noch an
Weitere Kostenlose Bücher