Das Netzwerk
derWand, der Dragoner hockte immer noch in seinem Kabäuschen, und die Überwachungskameras, die die unselige Angewohnheit hatten, weibliche Forschende immer genau dann unter die Lupe zu nehmen, wenn sie die Beine übereinanderschlugen, schwenkten immer noch durch den Raum. Und an den Tischen saß, wie immer, ein gutes halbes Dutzend ausländischer Forscher, die mit glasigem Blick auf osmanische Texte starrten.
Natürlich gab es auch türkische Wissenschaftler im Basbakanlik-Archiv, und unter all den merkwürdigen Gestalten, die den Lesesaal bevölkerten, waren sie Anna die liebsten. Meist handelte es sich um sogenannte «Profi-Historiker», alte Männer, die das osmanische Türkisch noch bis in die feinsten Nuancen beherrschten und ausländischen Forschern ihre Dienste anboten. Sie brauchten mitunter Jahre, um ihre Aufgabe zu Ende zu bringen, und ein Grund für das langsame Voranschreiten lag darin, dass die Alten einen Großteil des Tages einfach verschliefen. Als Anna sich jetzt umsah, entdeckte sie eine gute Handvoll dieser «Profis», die wie gewohnt eingenickt waren.
Als sie zwischen den umherhuschenden Gestalten ein bekanntes Gesicht entdeckte, rief Anna leise: «Ufuk!» Ufuk Celebi, einer der Gehilfen des Dragoners, war ihr während ihrer drei Monate im Basbakanlik-Archiv als Umblätterer zur Verfügung gestellt worden – eine weitere Vorschrift besagte nämlich, dass ausländische Nutzer die Seiten der osmanischen Dokumente nicht selbst umblättern durften. Als Anna Istanbul am Ende des Sommers wieder verlassen musste, hatte sie ihrem Umblätterer eine Schachtel belgischer Pralinen geschenkt. «Ufuk», rief sie jetzt noch einmal, diesmal etwas lauter. Er drehte sich zu ihr um, erkannte sie aber offensichtlich nicht.
«Pst», machte er. «Was wünschen Sie?»
Anna überlegte, ob sie sich zu erkennen geben sollte, entschiedsich dann aber dagegen. «Ich brauche ein Manuskript», sagte sie.
Ufuk musterte sie überrascht. «Da müssen Sie am Schalter fragen», sagte er und deutete auf die einundzwanzig Regeln.
«Das dauert immer so furchtbar lange. Können Sie mir nicht helfen? Ich möchte die aserbaidschanischen Dokumente einsehen, die Korrespondenz der Hohen Pforte mit Baku.»
«Tut mir leid, die sind gesperrt. Diese Unterlagen sind allesamt geheim.»
«Aber Sie haben sie hier im Archiv?»
«Fragen Sie am Schalter», wiederholte Ufuk.
Soll er mir doch gestohlen bleiben, dachte Anna und beschloss, stattdessen in der Teestube des Archivs etwas zu trinken, einem angenehmen kleinen Raum, der die Atmosphäre eines balkanischen Bahnhofs aus dem 19. Jahrhundert verströmte. Auch hier hatte sich nicht viel verändert: dieselbe Mischung aus sexhungrigen Studenten, alternden Professoren, manischen Armeniern und schläfrigen Türken. Anna bestellte einen Tee und ein Teilchen. Der charmante türkische Professor, der ihr zwei Jahre zuvor den Sommer versüßt hatte, war leider nirgends zu sehen, dafür erspähte ein etwa dreißigjähriger Deutscher Anna vom anderen Ende der Teestube, setzte sich zu ihr und versuchte, bei ihr zu landen. Er wirkte ernst und jungenhaft. Anna flirtete so lange mit ihm, bis sie ein angenehmes Kribbeln verspürte, dann ließ sie ihn links liegen, und er trollte sich mit tief verletzter Miene.
Gestärkt kehrte Anna ins Hotel zurück, um die unangenehme Pflicht zu erfüllen, Ali Ascari im Istanbul Hilton anzurufen. Sie setzte sich auf den Bettrand, legte einen Notizblock bereit und zückte einen Stift. Sie bat den Portier am Empfang, sie mitHerrn Ascari zu verbinden. Beim ersten Versuch war der Anschluss belegt, doch beim zweiten Mal nahm er ab.
«
Marhaba
», meldete er sich. Offenbar rechnete er mit einem arabischen Gesprächspartner.
«Guten Tag, Mr. Ascari», sagte Anna. «Hier ist Allison James.»
«Wer?» Er schien sich nicht an sie zu erinnern – vielleicht war das ja ein gutes Zeichen.
«Allison James, die Bankerin aus London.»
«Oh, ja! Wie geht es Ihnen, hübsche Lady? Es ist schön zu hören Ihre Stimme. Wo sind Sie denn?»
«In Istanbul.»
«
Ya salaam
!», rief er aus. «Warum das? Sie haben die weite Reise gemacht, nur um mich zu sehen? Ihren Freund Ali Ascari? Das ist ein gesegneter Tag! Gott sei gepriesen! Wo wohnen Sie?»
«Ich würde Sie gern treffen. Geschäftlich.» Anna schlug das Herz bis zum Hals. «Meine Freunde aus London haben mich mit einer wichtigen Nachricht hierher geschickt.»
«Warum nicht?», erwiderte Ascari. «Kommen Sie heute Abend
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