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Ihnen ein schrecklich eitles Kompliment zu machen», sagte Stone. «Und das würde folgendermaßen lauten: Sie erinnern mich an mich selbst, als ich jünger war. Aber zumeiner Zeit war es viel leichter, sich auf sein eigenes Urteil zu verlassen, denn im Grunde genommen hatte man gar keine andere Wahl.»
Taylor sah den alten Mann an: das glatte, gleichmütige Gesicht, die müden Augen. Stone sah aus, als wäre er so sehr in seiner Arbeit aufgegangen, dass von ihm selbst nicht mehr viel übrig geblieben war. Er versuchte sich vorzustellen, wie er selbst jenseits der sechzig sein würde, aber da versagte ihm die Phantasie.
«Jetzt erzähle ich Ihnen mal etwas von mir», sagte Stone. «Falls es Sie interessiert, etwas über einen alten Krieger zu hören.»
Taylor nickte.
«Neunzehnhundertfünfundvierzig, bei Kriegsende, war ich siebenundzwanzig Jahre alt. Das war vielleicht eine Zeit! Wir hatten gerade den Krieg gewonnen, und die Welt lag uns zu Füßen. Ich war damals noch in der Army und arbeitete als Geheimdienstoffizier im U S-Hauptquartier in Heidelberg. Wir machten uns damals daran, das Agentennetz von General Gehlen in Osteuropa zu übernehmen. Das Lustige daran war, dass wir niemanden um Erlaubnis fragten. Wen auch? Der Krieg war vorbei, und niemand zu Hause interessierte sich mehr für solche Sachen. Also machten wir es einfach auf eigene Verantwortung. Aber wir hatten ein Problem.»
«Welches denn?»
«Wie wir Gehlens Agenten bezahlen sollten. Weil wir keine offizielle Genehmigung hatten, bekamen wir auch kein Geld.»
«Wie haben Sie das Geld dann aufgetrieben?»
«Über den Schwarzmarkt», antwortete Stone. Bei der Erinnerung an diese abenteuerliche Zeit begannen seine Augen zu leuchten. «Damals kamen güterzügeweise Kaffee und Zigaretten für die U S-Truppen nach Deutschland, und davon haben wireinfach so viel zum Verkauf auf dem Schwarzmarkt abgezweigt, dass wir den Gehlen-Agenten ihren Lohn zahlen konnten. Auf diese Weise brauchten wir niemanden um Geld zu bitten, und außerdem hätte es einfach viel zu lange gedauert, alle notwendigen Genehmigungen einzuholen. Es war der einzig richtige Weg. Schon damals habe ich die Bürokratie gehasst.»
«Und wenn man Sie erwischt hätte?»
«Dann hätten Sie uns wahrscheinlich vors Kriegsgericht gestellt. Vielleicht auch nicht. Es war eine andere Zeit.»
«Wann haben Sie mit dieser Art der Geldbeschaffung aufgehört?»
«Erst 1948, nach Gründung der CIA», erwiderte Stone. «Man hat uns einen Anwalt geschickt, der uns einen Haufen Papiere unterschreiben ließ. Ich schätze, das war als eine Art Warnung gedacht.»
Taylor goss Stone und sich selbst noch einen Whiskey ein. Dichte Nebelschwaden trieben über das Wasser, die nur hin und wieder einen Blick ans Ufer erlaubten. Von irgendwoher ertönte ein Nebelhorn.
«Und was machen Sie jetzt?», fragte Taylor.
«Was ich jetzt mache?»
«Ja. Wenn ich das fragen darf.»
«Was sagt denn die Gerüchteküche?»
«Nicht viel. Die einen meinen, man hätte Sie abserviert.»
«Nun, das trifft offensichtlich nicht zu.»
«Ein anderes Gerücht sagt, dass Sie für den Stellvertretenden Leiter für Operative Einsätze furchtbar geheime und seltsame Dinge tun.»
«Das kommt der Wahrheit schon näher.»
«Mr. Stone, tun Sie mir einen Gefallen. Antworten Sie mir rundheraus, oder sagen Sie mir, ich soll mich zum Teufel scheren.»
Stone lachte auf. «Ich arbeite momentan für die Ostblockabteilung als Leiter für Spezialprojekte.»
«Was bedeutet das?»
«Absolut nichts. Ich bin dem Stellvertretenden Leiter für Operative Einsätze direkt unterstellt und darf mit seiner Genehmigung alle Mitteilungen zwischen Zentrale und Außenstellen lesen, die mich interessieren. Damit bin ich wohl so eine Art freiberuflicher Unruhestifter.»
«Und was für eine Unruhe wollen Sie hier in Istanbul stiften?»
«Das weiß ich noch nicht genau», sagte Stone. «Da würde ich gerne erst mal drüber schlafen. Haben Sie morgen früh schon etwas vor?»
«Nichts, was nicht warten könnte.»
«Was halten Sie davon, wenn wir uns treffen und die Sache bereden?»
«Einverstanden, Sir», sagte Taylor. Das war eine große Ausnahme, denn Taylor sagte sonst zu niemandem «Sir».
Wieder hörten sie das Nebelhorn, dieses Mal wesentlich näher. Ali Kaptan warf das Ruder herum und nahm einen scharfen Kurswechsel vor. «Russen!», brüllte er ihnen über das Motorengeräusch hinweg zu. Taylor und Stone schauten hinaus aufs Wasser und sahen
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