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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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Erst wenn sie von der Erdoberfläche verschwunden sind, dann beginnt die gute Zeit. Gegen ihren Besten werde ich im letzten Kampf antreten, und ich werde ihn töten – und gleichzeitig mit ihm sterben. Dann ist mein Ziel erreicht und mein Auftrag erfüllt.
    Er hörte, wie er ein Knurren ausstieß. Er wusste, wie er in diesem Moment aussah.
    Doch erst als er die Bestätigung erhielt, von einem kleinen Jungen, der entsetzt zu ihm aufsah und dann schreiend davonlief, kam er zu sich. Er trat vom Fenster zurück und versuchte zu lächeln, immer wieder, bis sich seine Züge entspannt hatten. Dann zog er sich um.
    Er legte seine schönsten Gewänder an und ging dann hinaus, um sich ein stilles Plätzchen zu suchen und den Frauen zuzusehen, die sich geschmeidig bewegten.

 
    5
     
     
     
    Ende Februar 1320. Jesus de Burgos
     
    Nach dem Abendmahl im Kreis der orthodoxen Mönche verstellte Jesus von Burgos den Gefährten den Weg. Er breitete die Arme aus und wollte mit Henri sprechen. Henri war erstaunt über das aufdringliche Verhalten des alten Pilgers, sagte sich dann jedoch, dass Jesus feinere Umgangsformen wohl nicht gelernt hatte.
    »Womit kann ich Euch dienen, Jesus?«, fragte Henri deshalb betont freundlich.
    »Mir geht so vieles im Kopf herum«, bekannte der Pilger. »Und bevor ich Weiterreise zum Kloster des heiligen Georg, möchte ich einiges geklärt haben. Ich mache mir Gedanken über Euch, Henri.«
    »Warum?«
    »Nun, ich glaube, ich kenne dich. Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen, es ist wahrlich lange her, in Paris.«
    Henri war alarmiert, doch er blieb beherrscht. »Das kann sein, ich lebte dort einige Jahre. Bei welcher Gelegenheit war es?«
    »Ich glaube, es war im Tempelbezirk von Paris. Ich sehe es vor mir, es war dort, wo die beiden Rundtürme ein Tor markieren, das in den inneren Bezirk führt. Es muss ein Sommertag vor gut zwanzig Jahren gewesen sein. Du kamst aus einem Wirtschaftsgebäude und wolltest zur Fraternei. Gerade als sich unsere Wege kreuzten, fielen dir Papiere aus den Händen, und ich half dir, sie aufzusammeln.«
    »Hm, das kann gut sein«, meinte Henri. »Aber verzeiht, Jesus, ich erinnere mich nicht.«
    »Es ist eben zwanzig Jahre her, und vielleicht täusche ich mich auch.«
    »Was tatest du im Bezirk der Templer?«
    »Ich war Templer, Henri.«
    »Ah – aus welcher Komturei?«
    »Ich glaube, der Komturbezirk hieß Velay.«
    »Du weißt es nicht genau?«
    »Es kann auch Sainte-Eulalie-du-Larzac gewesen sein. Ich wechselte häufig die Orte, man setzte mich hier und dort ein.«
    »Aha.«
    »Jedenfalls erhielten wir in jener Zeit viele Schenkungen, und ich hatte vorübergehend die Aufgabe, sie zu archivieren. Wir bezogen auch reiche Einkünfte aus den so genannten Dolinen, das waren trichterförmige Vertiefungen im Karstgestein, wo das Getreide auf wundersame Weise außerordentlich schnell und ergiebig wuchs und uns hohe Erträge brachte. Und wir hatten Viehzucht, Rinder als Zugvieh, Pferde, Schafe für die Wolle, die Häute, die Milch. Und wir hatten das Recht an den Durchzugsgebieten der Wanderherden und nahmen viel Geld ein. Ich musste alle Einnahmen festhalten und die Berechnungen durchführen.«
    »Interessant…«
    »Ja, es muss im Jahr 1299 gewesen sein, jetzt erinnere ich mich genau! Denn ich musste in jenem Jahr einem Bauern und seinen Kindern einen Hof mit Mühle auf der Gemarkung von Villalier als Zinsgut geben, er sollte außer einem geringen Zins von zwölf Deniers jedes Jahr einen Teil der Ackerfrüchte abliefern, den Quart des Ackerlandes, den Quint von gerade unter den Pflug genommenem Boden, den Tierce vom Hof, den Quart vom Produkt der Mühlen. Just an dem Tag, als ich dorthin ritt, um alles zu besprechen und niederzulegen, wurde der Hof von Räubern überfallen. Es kam zum Kampf, ich tötete einen, und die Bande floh.«
    »Gut. Es war also in diesem Jahr. Und du sahst mich im Pariser Tempel?«
    »So war es.«
    »Was schlussfolgerst du daraus, Jesus?«
    »Dass – du im Tempel von Paris zu tun hattest!«
    »Was kann ein Mann wie ich im Tempel von Paris zu tun gehabt haben?«
    »Nun, alles Mögliche. Sie ließen ja jeden hinein, der ihren Wachen nicht verdächtig schien. Du tätigtest dort Geschäfte, du bist ja Kaufmann, nicht wahr?«
    »Richtig.«
    »Es kann natürlich auch sein, dass du Mitglied des Templerordens warst. Denn die Papiere, die dir aus den Händen fielen und auf die ich einen Blick werfen konnte, zeigten von dir unterzeichnete Regale und

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