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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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zuströmende Menschenmenge. Er sah sie tatsächlich, es war nicht das erste Mal. Welch ein schönes, beruhigendes Bild! Er erblickte Jerusalem, wann immer er es wollte. Es war ein Bild, das nur für ihn bestimmt war.
    Er hatte seinen Auftrag in Lapethos bekommen und angenommen. Er hatte sich auf den Weg gemacht. Er ritt allein, er brauchte keine Helfer. Wenn es Spuren zu verfolgen galt, wirkte er wie ein wildes, einsam jagendes Tier.
    Jetzt stand er unter einem Zypressenhain und blickte der kleinen Reisegruppe hinterher. Er hielt gebührenden Abstand. Weiter unten im Tal sah er die Totenstadt. Er wusste, sie diente einst als riesiges Gefängnis. In der Zeit der Christenverfolgungen hatten die Ungläubigen alle Betenden dort eingekerkert und krepieren lassen. Noch heute nannte der Reiter diese Totenstadt das Gefängnis der heiligen Katarina. Denn er wusste, die Heilige aus Jerusalem – die er am Himmel sah, wann immer er es wollte – wie sie in den himmlischen Straßen der Stadt wandelte, hatte hier ebenfalls gelitten. Kaiser Maximinus war von ihrer Kühnheit, Weisheit und Schönheit beeindruckt gewesen, aber er hatte die Christin dennoch verfolgt und eingekerkert. Als sie ihrem Glauben nicht abschwor, ließ er sie aufs Rad flechten. Als ein Blitzschlag das Marterwerkzeug zertrümmerte, schlug der Kaiser ihr eigenhändig den Kopf ab. Heilige Katarina, dachte er, bete für mich. Stärke mich und hilf mir, mein Werk zu vollenden. Denn die Feinde unseres Glaubens müssen vernichtet werden!
    Der Mann lenkte sein Pferd hinunter in die Ebene. Das Kloster lag zu seinen Füßen. Er beschloss, nicht an der Klosterpforte um Einlass zu bitten. Die kleine Stadt am Meer sollte ihn aufnehmen wie einen Handelsreisenden oder einen Pilger, der mit Gott reiste.
    Er spürte in sich ein leises Lachen aufsteigen. Gott war mit ihm, auf all seinen Wegen. Manchmal allerdings nahm er ganz besondere Wege. Auf diesen brauchte er Gottes Beistand nicht – ganz im Gegenteil. In solchen Momenten war er viel lieber mit sich allein.
    Wer solche Aufträge zu erfüllen hat, dachte er, der trägt eine besondere Verantwortung. Die Ketzer, die selbst alle Regeln außer Kraft setzen, können nur gefangen werden, wenn auch für mich keine Regeln gelten. Dieser alte Templer sieht harmlos aus, dachte er, aber er ist gefährlich. Er konnte kämpfen, das hatte er schon einmal erfahren müssen. Er hatte versucht, ihn an der Nordküste zu stellen – vergeblich. Er hatte schon früher versucht, seiner habhaft zu werden. Schon in Paris hatte er ihm Falle auf Falle gestellt, doch der Hund war ihm immer wieder entkommen.
    Jetzt, hier, war seine Zeit gekommen! Die Falle musste endlich zuschnappen! Er hatte alles gründlich vorbereitet.
    Der Reiter war in der Senke angekommen. Er riss am Zügel, um das Pferd auf den richtigen Weg zu bringen. Er erreichte die ersten Häuser der alten Stadt. Er sah Werkstätten, Bewässerungsanlagen, Kammergräber überall. Handwerker schlugen Kupfergeschirr, in Schmieden glühten Eisen. Die Häuser bestanden aus einem offenen, rechteckigen Hof mit Räumen an drei Seiten, er blickte im Vorbeireiten hinein und suchte eine Herberge. In den Mauern erblickte er ausgedehnte Friedhöfe. Seltsam, dachte der Fremde, überall begraben sie ihre Toten außerhalb der Städte, nur hier nicht. Hier leben sie mit ihnen.
    Es sollte ihm recht sein. Er hatte nichts gegen Tote. Es würden bald noch mehr dazukommen.
    Der Reiter lenkte sein Pferd durch die abschüssigen Gassen der Stadt, Hunde versuchten, an ihm empor zu springen, er nahm es gelassen hin.
    Er beherrschte die Sprache der Einheimischen, verständigte sich aber dennoch nur mit herrischen Gesten. In einem Gasthof nahm er das ganze Obergeschoss mit Blick auf die Gräber in Beschlag und legte sich einen Plan zurecht.
    Wenn ich einst sterbe, dachte er, werden sie kommen, um meinen Leichnam zu berühren. Es wird Wunderheilungen geben. Krüppel werden gesund, aber nur, wenn sie keinen freien Geist besitzen. Der freie Geist unserer Zeit ist das Schlimmste. Daran sollen sie zugrunde gehen.
    In ihm dachte es immer weiter, er konnte es nicht verhindern, die Gedanken kamen und gingen in Wirbeln. Sie sollen zugrunde gehen, wenn sie glauben, einen eigenen Geist zu besitzen, dachte er, während er am Fenster von einem Fuß auf den anderen trat. So wie diese Templer, die sich an die Stelle von Obrigkeit und Kirche setzen wollten. Sie haben ihre verdiente Strafe erhalten, aber einige sind davongekommen.

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