Das neue Evangelium
über sich selbst, wollte Uthman sich abwenden, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er beobachtete den Mann im Garten und versuchte verzweifelt herauszufinden, was ihn an ihm störte.
Er erkannte es erst, als der Fremde nach einer Weile aufstand und den Garten verließ. Er wirkt gekünstelt, dachte Uthman. Es war, als bestünde er aus zwei Hälften.
Madeleine fühlte sich in dem Kloster nicht wohl. Das spartanische Leben machte ihr nichts aus, aber über den Mauern hing etwas Drohendes. Sie hätte Henri am liebsten vorgeschlagen, schnell weiterzureisen. Am besten wäre es, wenn sie immer zusammen sein und ständig Weiterreisen würden, bis sie die ganze Welt gesehen hätten, dachte sie.
Madeleine ging in die Klosterkirche. Die schmalen, gerundeten Fenster und Eingänge wirkten so, als wollten die Erbauer die Besucher auffordern, aufgerichtet, mit erhobenem Haupt, einzutreten. Madeleine tat dies. Sie hielt sich, wie man es von ihr gefordert hatte, einen Schleier vor die untere Gesichtshälfte.
Die Malereien an den Wänden waren schön und beruhigend. Madeleine schlug mehrere Kreuze. Dann zündete sie eine Kerze an und betete. Sie bat Gott darum, ihr ein Zeichen zu senden, um ihr zu zeigen, dass ihre Verbindung zu Uthman gesegnet sei.
Plötzlich bemerkte Madeleine, dass auch Jesus de Burgos in der Kirche war. Der alte Pilger kniete in einer Nische, wo Totenschilde verstorbener Mönche an den Wänden hingen. Madeleine nickte ihm grüßend zu. Jesus kam herüber und kniete sich neben Madeleine. Er blickte sie verständnisvoll an, ganz so, als wüsste er, worum sie gerade betete.
»Ich habe mit Henri gesprochen«, flüsterte der alte Pilger. »War er ein Tempelbruder?«
Madeleine blickte Jesus an. »Warum fragst du ihn nicht selbst?«
»Ich habe ihn gefragt, er antwortet ausweichend.«
»Dann wird er seine Gründe dafür haben. Überhaupt, warum ist es wichtig für dich zu wissen, was oder wer er war?«
»Ich kann ihm helfen.«
»So?«
Jesus schlug erneut ein Kreuz, weil eine kleine Glocke am Tabernakel bimmelte. »Er ist unglücklich mit seinem Leben. Ich sehe es ihm an. Er ist mit sich nicht im Reinen.«
»Wer ist das schon!«, seufzte Madeleine.
»Auch du weichst mir aus! Dabei seid ihr alle in Gefahr!«
Jetzt wurde Madeleine neugierig. »Was soll das, Jesus? Wenn du etwas sagen willst, dann sprich deutlich und ergehe dich nicht in Andeutungen. Was weißt du?«
»Sieh, ich bin von altem kastilischem Adel. Mein Vater war schon ein Tempelritter, ebenso wie mein Großvater. Ich trat dem Orden ebenfalls bei und war sehr stolz darauf. Als die Verfolgungen begannen, versteckte ich mich. Mein Vater wurde erschlagen. Seitdem bin ich auf der Flucht. Und ich glaube, auch Henri ist auf der Flucht. Es gelingt mir aber nicht, an ihn heranzukommen.«
»Vielleicht stellst du es ungeschickt an, Jesus! Ich kenne Henri als Menschen, der anderen gegenüber eigentlich immer offen ist. Ich kann jedenfalls nichts für dich tun!«
»Aber ich will euch doch nur helfen! Dieses angebliche neue Evangelium interessiert mich nicht. Ich habe in meinem Leben genug neue Evangelien kennen gelernt, die sich später als ein nutzloses Papier entpuppten. Mich interessieren nur noch Menschen. Und ihr seid mir alle lieb. Ich weiß, dass man euch verfolgt. Zypern ist ein französisches Protektorat. Jeder ehemalige Templer ist hier in höchster Gefahr!«
»Dann bist du es auch?«
»Ich nicht, nein. Ich meine – natürlich! Aber ich tarne mich besser als Henri. Er ist bekannt. Seine Beschreibung hängt in jeder weltlichen Amtsstube und in jedem Sekretariat der Kurie!«
Madeleine wusste nicht, was sie mit diesen Aussagen anfangen sollte. Konnte sie dem alten Pilger trauen? Oder wollte er nur Informationen aus ihr herauslocken? Möglich war alles, das wusste sie nach allem, was sie mit den Gefährten bisher erlebt hatte.
»Ich werde mit Henri sprechen«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Er muss dich anhören. Wenn es wahr ist, was du sagst, dann können wir davor nicht die Augen verschließen.«
»Ja, sprich mit Henri«, bat Jesus eindringlich. »Es ist so vieles falsch gewesen in meinem Leben. Ein einziges Mal noch möchte ich etwas Gutes tun. Ich will euch helfen!«
Madeleine spürte, wie ein kalter Schauer ihren Rücken hinunterlief. Was war richtig, was falsch? Auch sie konnte es oft nicht unterscheiden.
Man konnte bei keinem Menschen auf den Grund der Seele schauen. Und falsches Vertrauen konnte tödlich
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