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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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Suchen. Der deutsche Pilger hatte seine Sachen verstaut und brannte darauf, die Schrift zu sehen. Sie berieten, wie sie vorgehen sollten. Ganz unproblematisch war es nicht. Wenn sie zu begierig schienen, sie zu sehen, würde man sie ihnen vielleicht vorenthalten.
    »Gehen wir zu Bruder Agios«, schlug Ludolf vor. »Er macht einen recht offenen Eindruck auf mich.«
    »Lass uns vorher beten«, sagte Henri. »In der Kapelle bekommen wir sicher die nötige Inspiration für unser Vorgehen. Wie du weißt, bin ich hier, um am Grab des Apostels neue Kraft zu finden.«
    Der Duft der Frühlingsblumen auf dem umfriedeten und geschützten Klostergelände war betörend. Die Mönche hielten das Gras nicht kurz, so konnte sich alles entfalten, was einen Duft verströmte.
    »Vorsicht vor Giftschlangen, meine Brüder!«, rief ihnen ein noch junger Mönch zu. »Leider sind sie überall, wir müssen mit ihnen leben.«
    Als sie die Grabkapelle des Apostels betraten, überwältigte sie ein anderer Duft – der von Malereien. Jedenfalls schien es Henri so, als verströmten die Fresken an den Mauern einen besonders intensiven Geruch. Vielleicht war es aber auch nur der Weihrauch, der sich in den Mauern verfangen hatte. Die Harzstücke brannten hier drinnen überall in kleinen Schalen.
    Inmitten der Kapelle befand sich auf einem Sockel das Grab des Barnabas. Eine Büste zeigte den toten Apostel mit offenen Augen. Henri empfing sofort die Weihe dieses besonderen Ortes. Er fiel auf die Knie und begann, den Geist des Märtyrers in sich aufzunehmen. Nach einer Weile stand Ludolf wortlos auf und ging nach draußen, Henri ahnte, dass der Pilger zu unruhig für das Gebet war, und kümmerte sich nicht weiter darum.
    Er betete. Heiliger Barnabas, errette und erlöse mich von meinen Plagen. Mir und meinen Brüdern ist viel Unheil angetan worden. So wie dir. Im Geiste fühle ich unsere Verbindung. Gib mir ein Zeichen, was ich tun soll. Mein Leben läuft so dahin, und ich verliere meine Ziele aus den Augen. Vielleicht sollte ich ins Heilige Land gehen und missionieren! Vielleicht sollte ich mein Schicksal, ein Märtyrer zu sein, auf mich nehmen! Denn bin ich nicht zum Märtyrer auserkoren? Oder sollte ich einfach aufhören zu klagen?
    Das war ein neuer Gedanke. Henri erschrak selbst darüber. War es denkbar, dass er seine Rachegedanken aufgab und nur noch in der Güte des Herrn lebte? Dass er seinen Feinden vergab? Dass er damit begann, sie – zu lieben?
    Hatte sein Leben dann überhaupt noch einen Sinn?
    Henri war es gewohnt, sich seiner Feinde zu erinnern. Er sah sie bei Tag und bei Nacht vor seinem geistigen Auge. Er sah die Bilder der gefolterten Brüder und spürte die Narben seiner eigenen Wunden. Und unauslöschlich damit verbunden war das immerwährende Gefühl des Zorns. Und des Hasses auf die Verräter. Und noch immer, das wusste er, befand er sich in Gefahr. Denn die Häscher des französischen Königshauses waren überall.
    Wer ihn verriet, dem stand ein hohes Kopfgeld zu. Wie konnte er also seinen Rachegedanken aufgeben? Nicht, bevor die Schuldigen bestraft waren!
    Und doch…
    Henri schaute dem Abbild des Apostels ins Gesicht. Er versuchte, mit ihm ein Gespräch zu führen. Henri erinnerte sich, wie er in dem Ort Lirey in der französischen Champagne eine Nacht mit dem Grabtuch Christi allein gewesen war, wie er mit diesem Abbild des Messias vertieft war in einem stummen Dialog. Damals hatte er etwas Ähnliches gespürt wie jetzt. Eine Kraft, die auf ihn überging. Er war nicht allein.
    Gib mir einen Rat, betete Henri. Zeig mir einen Weg.
    Ich sollte mich bescheiden, dachte Henri plötzlich. Wer bin ich, dass ich erwarten dürfte, einen göttlichen Ratschlag zu empfangen? Bin ich nicht – trotz allem – ein glücklicher Mensch? Habe ich nicht gute Freunde um mich, die mich auf allen meinen Wegen treu begleiten? Bewege ich mich in der Schöpfung nicht sicher wie auf einem vertrauten Weg, der mich von Heimat zu Heimat führt?
    Henri beendete sein Gebet. Er stand auf. Während er die Kapelle verließ, wandte er sich noch einmal zum Grabmal von Barnabas um. Nichts hatte sich verändert.
    Aber Henri hatte plötzlich begriffen, dass er eine Antwort erhalten hatte.
     
     
    In die brennenden Augen des Mannes, der sich auf seinem hochbeinigen Araberhengst durch die Landschaft bewegt hatte wie ein Gesandter, trat ein stumpfer Glanz. Er sah erneut zum Himmel empor und erblickte ganz oben die geheimnisvolle Stadt und eine unzählbare, ihr

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