Das neue Evangelium
wiesen Titel auf.«
»Daran kannst du dich erinnern? Ich glaube, dass du vielleicht einen scharfen Verstand besitzt, dein Erinnerungsvermögen lässt allerdings zu wünschen übrig. Vor zwanzig Jahren sah ich völlig anders aus als heute! Es ist unmöglich, dass du mich wieder erkennst.«
»Aha! Du leugnest also nicht, Mitglied des Tempels gewesen zu sein?«
»Ist das ein Verhör?« Henri wurde ärgerlich.
»Nein, nein!«, beschwichtigte Jesus ihn. »Ich bin nur sehr interessiert an diesen Dingen. Ich habe dir ja eröffnet, dass ich Templer war. Schon in Kastilien, woher ich stamme, trat ich in den Orden ein. Ich habe mich dir also offenbart, und du könntest mich jetzt anzeigen und verhaften lassen. Ist das nicht genug Vertrauen? Warst du also Templer oder nicht?«
»Ich mag diese Fragen nicht«, bekannte Henri offen. »In diesen Zeiten, wo es als Verbrechen angesehen wird, wenn man sich zu bestimmten Werten bekennt, kann man nicht offen plaudern. Ob ich Templer war oder nicht – du wirst es von mir nicht erfahren, Jesus de Burgos. Suche dir eine andere Erinnerung, an einen anderen Ort, an eine andere Person! Frage Ludolf, ob er Templer war! Frage meinen Gefährten Uthman!«
»Er ist Sarazene!«
»Auch Sarazenen traten dem Tempel bei! Ich habe es in Syrien selbst erlebt.«
»Es war in Villalier-sur-Orlbieu! Jetzt weiß ich es genau! Also muss es 1298 gewesen sein! Ich war für die Bannherrschaft zuständig! Du verstehst, Bohlengelder, Marktrechte, Bannrechte auf Backhäuser, Weinpressen, Mühlen…«
»Jesus de Burgos, ich habe dir alles gesagt. Ich sehe, dass meine Gefährten auf mich warten.«
»Wann werden wir die Schrift mit dem neuen Evangelium sehen?«, fragte Jesus übergangslos.
Genervt blickte Henri den alten Pilger an. »Sobald man es uns zeigt. Ich weiß nicht, wann das sein wird.«
»Du bist ungehalten, Henri. Das habe ich nicht verdient. Du tust mir Unrecht, das wirst du eines Tages einsehen. Aber gut, gehe zu deinen Freunden.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber frage mich nicht über den Tempel aus! Das ist ein dunkles Kapitel.«
»Ah, jetzt hast du dich verraten, mein Freund! Denn so spricht nur jemand, der seine Brüder eigenhändig zu Grabe getragen hat!«
Henri verdrehte die Augen. Er nickte dem alten Pilger zu, der ihn mit aufgerissenen Augen anblickte, und machte kehrt, um zu seinen Gefährten zu gehen. Ludolf von Suchen winkte ihm aufgeregt zu.
Uthman hatte seinen Gebetsteppich ausgerollt. Der kleine Raum, den er in einem Haus mit Säulen und einem Innengarten bezogen hatte, war angenehm still und schattig. Uthman neigte sich nach Art der Muslime in Richtung Mekka und Medina, breitete die Arme mit den Handflächen nach oben aus und beugte den Kopf, bis die Stirn den Boden berührte. Uthman hielt sich an das vorgeschriebene Mittagsgebet, dann ließ er jedoch seinen Gedanken freien Lauf.
Er betete zu Allah, dem Allerbarmer, dass er ihn erleuchte. Denn wie konnte er sonst seine Liebe zu Madeleine ausleben, ohne seinen Glauben aufgeben zu müssen? Hilf, Allah, Allmächtiger, dachte Uthman. Und hilf auch Madeleine. Denn wir beide wissen nicht weiter. Und vielleicht ist dieser Ort hier der letzte, an dem wir zusammen sein werden. Vielleicht müssen sich unsere Wege jetzt trennen, denn es gibt keinen Raum für Liebende, die unterschiedlichen Religionen angehören. Ich kann keine Christin heiraten. Und sie keinen Muslim.
Was sollen wir also tun?
Uthman lauschte in sich hinein. Er vernahm keine Antworten. Gib mir ein Zeichen, Allah, oder ist es ein unstatthafter Wunsch?, fragte sich Uthman. Ich kann nicht mehr länger warten.
Nach einer Weile stand er auf, rollte seinen kleinen Teppich in den haschemitischen Farben zusammen und verstaute ihn. Er blickte nach draußen. Im Garten saß ein Mann, der zu ihm hinaufstarrte.
Uthman kannte den Fremden nicht und nickte ihm zu. Der Mann senkte den Blick. Dann hob er ihn wieder und lächelte. Uthman blickte in brennende Augen und feine Gesichtszüge und bewunderte die teuren Tuche, in die der Fremde gekleidet war.
Ein reicher Kaufmann, dachte Uthman. Kein Grieche, kein Araber, kein Zypriot. Er sieht städtisch und weltgewandt aus. Seine Haut ist sehr hell. Aber etwas an dem Mann machte Uthman misstrauisch. Er überlegte angestrengt, was es war.
Doch sobald er sich seiner Gedanken bewusst wurde, schalt er sich innerlich. War er schon genauso argwöhnisch geworden wie Henri, der überall Unheil zu wittern schien? Verärgert
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