Das neue Evangelium
sein.
Der Abend senkte sich über das Kloster des Barnabas herab. Die Liturgie zu Einbruch der Dunkelheit war beendet, die letzten Gesänge, ein Kyrie, ein Gloria, ein Credo und ein Agnus Dei, verstummt. Die Mönche liefen auseinander und begaben sich in ihre Zellen, wo sie bis zum Beginn des Nachtgebets die Schriften studieren wollten.
Henri hatte vergeblich versucht, den Abt des Klosters nach dem neuen Evangelium zu befragen. Wie sein Stellvertreter war auch Zenon Piérides misstrauisch und nicht bereit, Auskünfte zu geben.
Als Henri jetzt über das Klostergelände spazierte, in Gedanken versunken und bereit, Zeichen zu erkennen, die ihn auf den richtigen Weg führen sollten, wartete Madeleine auf ihn. Sie schien sehr aufgeregt zu sein.
»Ich habe mit Jesus de Burgos gesprochen«, sagte die junge Frau. Henri sah Angst in ihren graublauen Augen. »Er weiß, dass du ein Tempelritter warst. Und er behauptet, wir alle seien in großer Gefahr! Ich kann nicht entscheiden, ob ich ihm trauen soll. Du musst mit ihm sprechen, Henri!«
»Er ist ein merkwürdiger Mensch. Ich habe das Gefühl, er verbirgt etwas. Immer druckst er herum. Woher weiß er von meiner Vergangenheit?«
»Er sagt, er sei selbst Tempelritter gewesen. Er kennt offenbar die Verhältnisse. Er behauptet, du würdest überall im Abendland gesucht.«
»Dann weiß er nur, was jeder weiß. Ein solches Wissen kann auch jemand haben, der auf der anderen Seite steht, der in Amtsstuben ein und aus geht.«
»Sprich mit ihm! Du wirst herausfinden, ob man ihm trauen kann! Frag ihn, in welcher Gefahr wir uns befinden, das sagt er doch nicht einfach aus einer Laune heraus, ohne etwas Genaueres zu wissen!«
»Na schön! Am besten, du gehst jetzt schlafen, Madeleine. Die letzten Tage waren anstrengend.«
»Das waren sie. Aber ich kann nicht schlafen, ich habe so viele Sorgen!«
»Versuch es, Madeleine! Es kommen weitere schwierige Tage auf uns zu!«
»Gute Nacht, Henri!«
Als Henri wieder allein war, spürte er die Stille um sich herum. Es war eine Art laute Stille, ein Geräusch, das die Stille förmlich anzog. Zumindest schien es Henri so. Doch als er eingehender darüber nachdachte, erschien ihm diese Vorstellung lächerlich, und er schüttelte sie rasch ab. Und dann begannen auch schon die Grillen und Zikaden mit ihrem Konzert. Der Mond stand hell am Himmel, und es duftete nach Eukalyptus.
Henri ging im Klostergarten umher und setzte sich auf eine Bank. Er schaute zum Himmel hinauf. Das Gefühl verließ ihn, etwas habe seinen angestammten Platz verlassen und bewege sich gefährlich auf ihn zu. Am Himmelszelt konnte er ablesen, dass alles in seiner Ordnung war. Alles befand sich in Harmonie.
Hinter sich vernahm er ein Geräusch. Er achtete zunächst nicht weiter darauf. Ein Tier im Gesträuch, dachte er dann. Nach einer Weile hörte er ein Atmen, das Geräusch wiederholte sich, jemand brach zwischen Kräuterbüschen hervor.
Blitzschnell war Henri aufgesprungen. Seine Hand fuhr zum Gürtel, obwohl er seine Waffen seit Betreten des Klosters abgelegt hatte. Der Schatten vor ihm nahm Gestalt an. Ein Mönch.
Henri erkannte, dass der Mann halb blind war. Seine Augen waren von einem weißen, wässrigen Schleier überzogen. Sein Blick war jedoch fest. Er sagte leise:
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe dir etwas zu sagen.«
Henri fasste sich sogleich wieder. »Was willst du mir sagen?«
»Ich bin der Sakristan und ein ehemaliger Schreiber des Klosters. Ich hörte, wie du mit dem Abt über die Schrift gesprochen hast. Sie tun alle so, als gäbe es dieses neue Evangelium nicht. Und auch ich wünschte, wir hätten es nie entdeckt. Aber es ist da! Und es enthält Wahrheiten, die für uns erschreckend sind.«
»Kannst du es mir zeigen?«
»Deshalb bin ich gekommen.«
»Wo und wann?«
»Wenn du beim Glockenschlag um ein Uhr in das Skriptorium kommst, zeige ich es dir.«
»Es ist in arabischer Sprache geschrieben, nicht wahr?«
»Ja. Aber du wirst es verstehen, keine Sorge. Denn seine Zeichen sind von anderer als von sprachlicher Art!«
»Ich bringe einen Gefährten mit, der darauf brennt, es zu sehen.«
»Nein, nein, du musst allein kommen. Es ist sonst zu gefährlich.«
»Also gut«, sagte Henri. »Eine Stunde nach Mitternacht.«
Der Sakristan verschwand in den Schatten, die der Mond warf. Henri sah ihn im vorderen Teil des Gartens untertauchen. Er stand noch eine Weile ruhig da und überlegte. Ich werde die Schrift allein ansehen und
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