Das neue Evangelium
Er hatte selbst schon Ratten, Mäuse und alle Arten von Vögeln hier gesehen. Manchmal fanden sogar Siebenschläfer, Waschbären und Luchse ihren Weg in das Kloster.
Abt Zenon Piérides lauschte. Da war wieder etwas – eine Treppe knarrte. War es nicht die schmale Stiege, die zu seinem Schreibzimmer führte?
Der Abt erschrak. Dort lag die Handschrift des Barnabas, der kostbarste Schatz des Klosters! Die verfluchte Schrift des Apostels, der damit das Christentum auf den Kopf stellen wollte! Wäre doch diese Schrift nie entdeckt worden! Seine Schreiber unter der Leitung von Askenios und Proskenion tilgten daraus die Ungeheuerlichkeiten, sie erstellten eine unschädliche Kopie.
Der Abt lauschte weiter.
Er hörte nichts. Dennoch beschloss er, nachzusehen.
Während er sich ankleidete, dachte er selbstgefällig darüber nach, wie klug es gewesen war, den Schreiber Alexios Narkissos nicht einfach zu töten, sondern ihm als Gefangenem das Kopieren des Evangeliums zu übertragen. Der Skribent musste tagsüber kopieren, und nachts setzte man ihn im Eiskeller des Klosters fest. Denn Narkissos war der einzige Schreiber, der Latein, Griechisch und Arabisch beherrschte – ein perfekter Sklave mit einem großen Auftrag!
Mit dieser Arbeit konnte er zudem auch seine Sünden sühnen, denn er hatte große Schuld auf sich geladen!
Der Abt war nun angekleidet. Er überlegte, ob er seinen Diener, einen jungen Mönch aus Lanarka, wecken sollte. Dann unterließ er es jedoch. Was getan werden musste, wenn sich jemand an den Manuskripten zu schaffen machte, das konnte er allein erledigen.
Auf Zehenspitzen schlich der Abt über den langen, dunklen Gang in Richtung des Schreibzimmers.
»Wir nehmen ein Manuskript mit uns«, entschied Henri kurz entschlossen. »Am besten das Original. Dann richtet es kein Unheil an.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Uthman. »Ich kann es dann noch einmal ausführlich studieren. Denn es sind mir einige Dinge aufgefallen, die ich nur klären kann, wenn ich es in aller Ruhe lese.«
»Wir nehmen es, und dann verschwinden wir. Die erste Dämmerung ist sicher nicht mehr weit.«
»Sie werden es gleich merken. Was dann?«
»Auf uns kann kein Verdacht fallen. Sie werden höchstens Ludolf befragen. Uns traut niemand einen solch dreisten Raub zu. Deshalb werden wir auch nicht aus dem Kloster flüchten. Wir reisen am Mittag ganz ruhig ab, wie es von uns verlangt wurde. Ein überstürzter Aufbruch würde uns nur verdächtig machen.«
»Du hast Recht. So machen wir es.«
Die beiden Freunde verließen den Raum auf den gleichen Wegen, auf denen sie gekommen waren.
Unmittelbar nach ihnen betrat Abt Zenon Piérides das Schreibzimmer. Er nahm den fremden Geruch, den die Eindringlinge hinterlassen hatten, sofort wahr. Und er sah auf einen Blick, dass der Schreibtisch in Unordnung war. Er trat näher.
Das Manuskript! Mit fliegenden Fingern suchte er danach. Er fand nur die Kopie. Das Original war verschwunden. Im gleichen Augenblick schrie er um Hilfe.
Die beiden Gefährten hörten den Abt schreien, als sie auf der Galerie des Krankenbaus angekommen waren. Sie blieben einen Moment lang lauschend stehen.
Dann sputeten sie sich.
ZWEITER TEIL
10
Ende Februar 1320. Das Verhängnis
Während die Gefährten alles für ihre Abreise vorbereiteten, musste Henri an Uthman denken. Der Sarazene studierte sicher irgendwo da draußen die Schrift. Wenn sie sich am Mittag in Enkomi trafen, wollte er Henri über jede Einzelheit in Kenntnis setzen. Uthman hatte weitere Überraschungen angekündigt.
Henri fragte sich inzwischen, warum es ihm nicht gelang, dieses neue Evangelium einfach zu ignorieren. Sollte sich die Kirche doch damit befassen. Es war ihre Überlieferung, die durch dieses neue Evangelium in Frage gestellt wurde.
Aber es war niederschmetternd. Alles, was Henri gelernt hatte, woran er bisher glaubte, schien falsch zu sein, zumindest bestand die Möglichkeit, dass sich die Dinge anders abgespielt hatten, als er bisher gedacht hatte.
Jesus Christus war nicht gekreuzigt, sondern gleich zu Gott geholt worden? Er hatte die Schuld der Menschen nicht gesühnt und getilgt? Gab es dann auch kein Jüngstes Gericht, an dem die Gerechtigkeit Einzug halten würde? War Gerechtigkeit dann überhaupt ein göttliches Gebot?
Das neue Evangelium des Barnabas erzählte offenbar Jesu Geschichte in enger Anlehnung an die vier bekannten Evangelien, und dadurch war es auch glaubhaft. Umso
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