Das neue Evangelium
Jünger. Die zwölf Apostel. Er sah Jerusalem, den Ölberg in der Nacht, Golgatha, das Kreuz und den Tod.
Außerdem musste er an etwas denken, das ihm immer wieder einmal zu Ohren gekommen war. Nämlich, dass es mehr Texte über Jesus gab, als das Neue Testament enthielt. Wo waren sie geblieben?
Solche Fragen durfte sich kein Gläubiger im ganzen Abendland stellen. Das galt als Ketzerei. Die römische Kirche hatte solche Fragen verboten.
Auch Henri hatte sich diese Fragen bisher nicht wirklich gestellt. Aber in diesem Moment konnte er den Gedanken nicht verdrängen.
Henri wusste, dass die Kirche bereits früh angefangen hatte, die als echt erachteten Schriften der Zeitzeugen Christi und auch die verdammten, die apokryphen Evangelien und Texte zu sammeln. Eine erste Liste, das Muratorische Fragment, war schon im 2. Jahrhundert nach Jesus Christus erschienen, darin fehlten nur fünf Briefe, es enthielt aber die später als apokryph geltenden Schriften, wie die Petrus-Apokalypse und die Sprüche Salomos. Henri hatte diesen Kodex in Konstantinopel einsehen können. In der Ostkirche, auch das wusste Henri, war der Kanon durch einen Osterbrief des Bischofs von Alexandria, Athanasios, im Jahr 367 festgelegt worden. Die Westkirche legte das verbindliche Verzeichnis der Schriften auf den Konzilen von Hippo Regius im Jahr 393 und dem von Karthago vier Jahre später fest. Im Jahr des Herrn 1246 wurde der Kanon bei einem erneuten Konzil bestätigt.
Das alles ging Henri durch den Kopf, während er wartete. Uthman las immer noch, sein Zeigefinger glitt von Zeile zu Zeile. Henri bemerkte mit einigem Unbehagen, dass Uthman völlig gebannt war.
»Was ist?«, flüsterte Henri. »Sag etwas.«
»Es ist einfach ungeheuerlich«, stieß Uthman angespannt hervor. »Und es wird dir nicht gefallen.«
»Nun sprich schon!«
»Noch eine letzte Seite! Dann fasse ich den Inhalt zusammen!«
»Ist das Schriftstück echt?«
»In meinen Augen durchaus. Aber urteile selbst.«
Henri blickte durch die Fensteröffnungen nach draußen. Da der Raum im oberen Stock lag, sah er den Himmel. Der bleiche Mond stand voll auf dem schwarzen Grund, sein rundes Gesicht leuchtete. Du alter Begleiter strahlst aus dir selbst heraus, dachte Henri. Aber wir Menschen müssen uns unser Licht jeden Tag neu verdienen. Und haben wir bisher alles richtig gemacht und richtig gesehen? Oder wird sich zeigen, dass die Wahrheit bisher im Dunkeln lag?
Uthman räusperte sich. Er machte eine beschwichtigende Geste. Offenbar war er gleich mit der Lektüre fertig.
In der Ferne bellte ein Hund. In den Mauern der alten Prälatur knackte es. Aber im Kloster schienen alle zu schlafen.
Henri musste sich weiter gedulden und versuchte, sich an einige Schriften der Kirchenväter zu erinnern.
Darin waren oft andere Apokryphen erwähnt worden, die aber nie jemand zu Gesicht bekommen hatte. Nur Eingeweihten waren sie ein Begriff, im Tempel von Paris hatte er in Lehrstunden davon gehört. Diese Texte besaßen teils bemerkenswerte Namen. Sie hießen etwa Evangelium des Bartholomäus, Evangelium der Wahrheit, Lebendes Evangelium oder Evangelium der Vollendung. Noch einige andere Namen waren Henri dunkel in Erinnerung. Auch sie kannten nur die Schriftgelehrten der frühen christlichen Kirche, hin und wieder sickerte etwas durch. Hinter vorgehaltener Hand wurde darüber gesprochen.
Wo befanden sich diese Evangelien heute? Und was hatte in ihnen gestanden, dass sie so gründlich versteckt und geächtet worden waren? War verflucht, wer sie ansah?
Aber war es überhaupt ein legitimer christlicher Gedanke, an solche Dinge zu denken?
»Komm zum Ende, Uthman! Du spannst mich ungebührlich auf die Folter!«
»Was ich dir gleich zu sagen habe, wird für dich die wahre Folter sein, mein Henri!«
Henri schluckte. Er lenkte sich selbst einfach weiter ab, indem er seinen Gedanken nachhing.
Die von den Evangelien abweichenden Texte mussten ganz unterschiedlichen Zwecken gedient haben. Manche waren offenbar nur gekürzte Fassungen der bekannten Evangelien gewesen, andere Ausschmückungen, die wohl dem Wunsch der Gläubigen Rechnung getragen hatten, mehr über das Leben Jesu zu erfahren. Das war durchaus zu verstehen, dachte Henri. Denn enthalten die vier Evangelien nicht riesige Lücken? Über die Kindheit von Jesus wusste die Christenheit beispielsweise fast nichts. In einem Kindheitsevangelium aber tauchte er als eine Art Zauberlehrling auf, der Spielzeug zum Leben erweckt. Davon berichtete
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