Das neue Evangelium
«
»Ich bin schon jetzt davon überzeugt, dass mir dieses Evangelium nicht behagt.«
»Es geht noch weiter. Unter ihnen wurde sogar Paulus in die Irre geleitet. Ich spreche nur in Trauer darüber, daher schreibe ich die Wahrheit, die ich gesehen und gehört habe, da ich Umgang mit Jesus hatte, damit ihr erlöst und nicht vom Satan in die Irre geführt und im Urteil Gottes vernichtet werdet. Nehmt euch also in Acht vor denen, die neue Lehren predigen, die dem widersprechen, was ich schreibe, damit ihr in Ewigkeit gerettet werden möget.«
»Ich weiß«, sagte Henri matt, »dass es schon zwischen den Aposteln Streit darüber gegeben hatte, ob zum Christentum bekehrte Heiden nicht zuerst Juden werden müssten. Diese Frage beträfe auch dich, Uthman, wenn du Madeleine heiraten willst. Doch diese Frage wird in der Apostelgeschichte, die von der ersten Zeit der Heidenmission berichtet, nicht bis zum Ende erörtert. Die Christen, die den von Paulus und Petrus gewählten Kurs ablehnten, zogen sich unter der Führerschaft von Jakobus, dem Bruder Jesu, nach Arabien zurück. Das geschah, glaube ich, im Jahr 66. Könnte es nicht sein, dass dieses Evangelium aus dem Kreis dieser Leute stammt?«
»Das solltest eher du beantworten können als ich, Henri!«
Henri seufzte. »Ich kann es aber nicht. Fahr bitte fort.«
»Und Jesus – so steht hier – kündigte einen weiteren Propheten an. Da fragten die Priester, wie er heißen und welche Zeichen ihn ankündigen würden. Und Jesus antwortete: Der Name des Messias wird bewundernswert sein, denn Gott selbst gab ihm den Namen, als er seine Seele schuf. Gott hatte nämlich befohlen: Warte, Mohammed, um deinetwillen will ich das Paradies erschaffen, Mohammed wird dein gesegneter Name sei. Da erhob sich die Menge, und sie rief laut: O Gott, sende uns deinen Gesandten! Er möge bald kommen, um die Welt zu retten!«
»Mohammed!«, sagte Henri mit Nachdruck. »Das ist der Name des letzten Propheten?«
»So steht es hier.«
»Das entspricht deinem Glauben, Uthman.«
»Nun ja, ich habe dieses Evangelium aber nicht geschrieben, mein Freund.«
»Was steht noch dort?«
»Jesus sagte: Der Erlöser kommt nicht in eurer Zeit. Sondern er kommt erst einige Jahre nach euch. Dann wird mein eigenes Evangelium ausgelöscht werden. In jener Zeit hat Gott Mitleid mit der Welt und wird darum seinen Gesandten senden.«
Henri konnte nicht fassen, was er hörte. Er brauchte Uthman nicht aufzufordern weiterzulesen. Henri hörte die Stimme des Freundes wie aus weiter Ferne.
»In der Mitte des Evangeliums gibt es noch eine weitere sehr interessante Stelle. Barnabas schreibt hier: Als die Soldaten mit Judas sich dem Ort näherten, an dem sich Jesus befand, hörte Jesus, dass viele Menschen herbeieilten. Also zog er sich voller Furcht in das Haus zurück.«
»Nein, nein! Das kann nicht stimmen! Jesus erfüllte doch seinen leidvollen Auftrag, den sein Vater ihm erteilt hatte – stirb am Kreuz, damit die Menschen von ihren Sünden erlöst werden!«
»Hier steht es anders, mein Freund.«
»Was steht dort noch?«
»Und die Jünger schliefen, sie beschützten Jesu nicht. Da sah Gott, dass sein Diener auf Erden in höchster Gefahr war. Und er befahl Gabriel, Michael, Rafael und Uriel, Jesus aus der Welt zu holen. Die heiligen Engel kamen, führten Jesus mit sich und trugen ihn aus dem Fenster, das nach Süden ging. Sie brachten ihn in den dritten Himmel.«
»Entsetzlich!«, entfuhr es Henri. »Und wer war es, der dann gekreuzigt wurde?«
»Es war Judas!«, sagte Uthman leise.
Wieder schob sich draußen eine dicke Wolke vor den Mond. Wieder wurde es finster. Henri wagte nicht, sich zu rühren oder zu sprechen. Auch Uthman schwieg. Dann kam das Mondlicht zurück. Henri sagte:
»Uthman, ich weiß, was das bedeutet. Wenn es zutrifft, was dort steht, und wenn diese Schrift wirklich von Barnabas ist, dann kann Christus nicht der Erlöser sein. Und dann – habe ich bisher ein falsches Leben gelebt.«
Mitleidig sah Uthman seinen Freund an. Es fiel ihm kein tröstendes Wort ein.
Der Abt des Klosters erwachte, als es noch tiefe Nacht war. Das Mondlicht beleuchtete den Klosterhof mit senkrecht fallendem Licht. Es war noch mindestens eine Stunde bis zum Frühgebet.
Plötzlich vernahm der Abt Geräusche. Sie mussten aus seinem Wohntrakt kommen. Er lauschte. Zenon Piérides hatte ein gutes Gehör, doch jetzt war alles still. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht, oder es kam von einem kleinen Tier.
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