Das neue Evangelium
schwerer wogen aber die entscheidenden Abweichungen. Warum sollte Barnabas lügen?
Henri schwirrte der Kopf. Er musste hinausgehen. Er querte den Klosterhof und hörte, wie im Gebäude des Abts einige Personen erregt durcheinander riefen. Henri trat durch die Pforte ins Freie. Er setzte sich, mit dem Rücken an die Klostermauer gelehnt, auf den trockenen Boden.
Der Messias, Sohn der Maria, ist nur ein Gesandter gewesen, dachte Henri. Er hatte ja verkündet: Ich bestätige vor dem Himmel, und ich rufe zum Zeugen alles an, was auf der Erde lebt, dass mir alles fremd ist, was meine Jünger von mir verlangen – ich kann es nicht erwirken!
Jesus Christus war ein Mensch! Geboren von einer sterblichen Frau! Er hatte sich der drohenden Gefahr entzogen. Er war niemals von Gottvater zum Leiden verdammt gewesen und niemals auferstanden! Damit waren alle christlichen Festtage nichtig! Ostern und die Trauer der Christenheit eine Farce! Pfingsten eine Komödie!
Henri wurde von diesen Gedanken gepeinigt. Sie schmerzten.
Zwar war Jesus auch im Licht des neuen Evangeliums dem Ratschluss Gottes unterworfen, als sein Gesandter. Aber er war nicht heilig. Er aß und schlief und hatte Angst, er liebte und hasste. Er war nichts als ein Mensch. Nicht Gott war es gewesen, der seinen Sohn auf die Erde geschickt hatte.
Aber wer war es dann? Satan?
Oder hatte ihn vielleicht überhaupt niemand geschickt? Vielleicht war Jesus ja auch nur ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen wie Henri, Ludolf oder die Gefährten? Das schien noch die beruhigendste unter allen Möglichkeiten zu sein.
Jedenfalls war er kein Messias. So hatte auch der Koran ihn immer genannt. Dieses Wort, das »der Gesalbte« bedeutete, bezeichnete den rechtmäßigen jüdischen König, es bezeichnete einen Machtanspruch. Später, als sich das Christentum von seinen jüdischen Wurzeln löste, erhielt es die neue Bedeutung »Erlöser«. Der Gesalbte, der Erlöser – war Jesus nichts dergleichen? War er nur ein Prophet wie Mohammed? Weder göttlich noch mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet?
Hilf mir, Gott, flehte Henri. Lass es nicht wahr sein! Und erkläre mir, was ich denken soll, es steht in deiner Macht!
Sonst verzweifle ich!
Als Henri aufblickte, bemerkte er, wie Madeleine herangeritten kam. Henri hatte sie am Morgen vermisst und Sean aufgetragen, ihre Sachen zu packen. Jetzt sah er, dass die junge Frau einen Begleiter hatte. War das jener Grimaud, von dem Sean ihm berichtet hatte? Ein Reiter mit einer kerzengeraden Haltung. Ein Späher, dessen scharfen Augen nichts entging.
Henri stand auf und sah den beiden entgegen. Madeleine sprang aus dem Sattel, ihr Begleiter blieb auf dem Pferd. Madeleine stellte ihn als bedeutenden Kaufmann und wirtschaftlichen Gesandten aus Paris vor, der die Beziehungen Zyperns zum französischen Mutterland verbessern sollte.
»Sie sehen betrübt aus, Herr Henri«, sagte Grimaud laut. »Ist etwas geschehen?«
»Nichts, nichts«, entgegnete Henri unwillig. »Mein Kopf schmerzt ein wenig, das ist alles. Es ist schwül heute Morgen. Und ich habe schlecht geschlafen.«
»Nun, es geht mich auch nichts an«, bemerkte Grimaud.
Madeleine sagte: »Sind die anderen alle hier? Ich möchte euch allen etwas mitteilen.«
»Bis auf Uthman sind alle im Kloster. Wir bereiten allerdings unsere Abreise vor. Am Mittag ziehen wir weiter.«
»Ach!«, entfuhr es Grimaud. Dann ließ er, um den Eindruck übermäßiger Neugier zu zerstreuen, sein Pferd tänzeln.
»Wohin geht ihr?«, wollte Madeleine wissen.
»Kommst du nicht mit uns?«, fragte Henri überrascht.
»Davon wollte ich eben sprechen«, sagte Madeleine. »Ich habe einen Entschluss gefasst. Aber ich wollte davon erzählen, wenn alle versammelt sind – auch Uthman soll dabei sein.«
»Wir treffen ihn später in Enkomi«, erklärte Henri.
Grimauds Pferd tänzelte noch immer, es drehte sich auf den Hinterläufen im Kreis. Grimaud schnalzte mit der Zunge. Als er das Tier gezügelt hatte, fragte er:
»In welchem Gasthof werdet ihr absteigen?«
»Unser Freund wird Zimmer anmieten«, meinte Henri. »Wir werden nicht lange in Enkomi bleiben. Unsere Reise geht weiter.«
»Wohin, wenn ich fragen darf?«
»Das werden wir wohl allein besprechen.«
»Ihr seid – unwirsch, bester Freund«, sagte Grimaud.
»Ich sagte ja, das liegt am Wetter«, erklärte Henri, wenig überzeugend.
»Was hast du, Henri?«, wollte nun auch Madeleine wissen. »So habe ich dich ja noch nie erlebt.«
»Mir wurde
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