Das neue Evangelium
auch der Koran, das hatte ihm Uthman einmal erzählt.
Henri beobachtete den Freund, der noch immer mit dem Finger die Zeilen abfuhr, den Kopf tief über die Schrift gesenkt. Er wirkte weiterhin angespannt.
Henri hatte einmal gehört, dass einige Apokryphen ganz bestimmte, von kirchlichen Vorstellungen abweichende Strömungen des Christentums aufgriffen. Vor allem im Heiligen Land hatte man ihm davon erzählt. Ein Beispiel dafür waren die Nag-Hammadi-Evangelien, denen ein mystisch geprägtes Verständnis des Christentums zugrunde lag, denn Jesus war diesen Texten zufolge kein Mensch, der wirklich gelebt hatte, sondern nur eine Vorstellung. Eines der bekanntesten apokryphen Evangelien war das koptische Thomas-Evangelium aus Ägypten, an dem sich auch die Gläubigen in Äthiopien orientierten, wie Henri auf einer Reise festgestellt hatte. Es handelte sich um eine Sammlung von unzähligen, angeblich authentischen Aussprüchen Christi, die im zweiten Jahrhundert im Nahen Osten entstanden war.
Henri hatten solche Überlieferungen immer fasziniert und gleichzeitig erschreckt. Ihm reichten die bekannten Überlieferungen, um ein lebendiges Verhältnis zu Gott zu unterhalten. Er war kein aufsässiger Christ.
»Gleich, Henri! Noch ein wenig Geduld!«
Zu den apokryphen Schriften gehörte auch das Evangelium, das hier vor Uthman und Henri auf dem Tisch lag. Das Evangelium des Barnabas. Was aber stand in dieser Schrift?
»Du musst zum Ende kommen, Uthman!«
Als Henri dies sagte, fiel sein Blick auf ein anderes Manuskript, das auf der Seite des Tisches lag. Um seine Spannung zu mildern, stand er auf und nahm es in die Hand. Sogleich fiel ihm die Ähnlichkeit mit der Schrift auf, die Uthman las.
Henri legte den Papyrus neben den anderen. Die Schrift war identisch. In diesem Moment wurde Uthman fertig. Er blätterte um, jetzt lag das Deckblatt wieder oben.
»Sieh nur«, sagte Henri. »Ein zweites Manuskript. Es gleicht dem anderen.«
»Noch ein Barnabas-Evangelium!«, sagte Uthman.
»Sie haben es kopiert!«, vermutete Henri. »Wahrscheinlich haben sie dabei sämtliche heiklen Stellen getilgt.«
»Welches wird wohl das echte sein?«, fragte Uthman.
»Vermutlich das, in dem es genügend heikle Stellen gibt«, sagte Henri.
»Dann ist es das, welches ich soeben gelesen habe«, sagte Uthman. »Es wimmelt darin von Dingen, die einem Christen unerträglich sein werden!«
»Erzähle!«
»Warte!«
Aus dem hinteren Teil des Gebäudes waren mit einem Mal Geräusche zu hören. Etwas kratzte an der Wand. Es folgten dumpfe Töne, die wie Schritte klangen. Dann schlug etwas zu.
»Hörst du das?«
»Ja.«
»Vielleicht geht der Abt auf den Locus secretus«, vermutete Henri, nachdem alles wieder ruhig war. »Wir haben noch eine gute Stunde Zeit.«
»Wir werden die beiden Schriften miteinander vergleichen«, schlug Uthman vor. »Ich suche die erste Stelle, in der eine kühne Behauptung enthalten ist, die allen bekannten Aussagen aus dem Neuen Testament widerspricht. In der Kopie wird eine solche Stelle vermutlich nicht zu finden sein.«
»Eine gute Idee! Beeil dich!«
Uthman fuhr hastig mit dem Zeigefinger über eine Zeile. »Hier! Nehmen wir diese Stelle!« Er griff nach dem anderen Manuskript, blätterte die Seiten durch. »Da siehst du es schon! Dies da ist die Kopie! Dort fehlt nämlich die Stelle. Beschäftigen wir uns also mit dem Original!«
»Und? Worum geht es in dieser Passage?«
»Halt dich fest, Henri!«
»Mach es um Himmels willen nicht so spannend, Uthman!«
Als Uthman eben mit seinem Bericht beginnen wollte, wurde es dunkel. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Uthman wartete, bis sie wieder fort war, dann deutete er auf den Anfang des Evangeliums.
»Hier steht: Barnabas, Apostel von Jesus dem Nazarener, der Christus genannt wird, an alle, die auf der Erde leben und Frieden und Trost verlangen.«
»Das klingt unverfänglich und irgendwie – schön!«
»Dann geht es weiter. Der große und wunderbare Gott hat uns in den letzten Tagen durch seinen Propheten Jesus Christus besucht…«
Henri unterbrach Uthman mit einem erstaunten Ausruf. »Durch seinen Propheten Jesus Christus? Das steht dort wirklich?«
»So steht es hier.«
»Jesus ist kein Prophet. Er ist der Sohn Gottes!«
»Hör zu. Viele, von Satan in die Irre geleitet, predigen eine unfromme Lehre, nennen Jesus den Sohn Gottes, lehnen die von Gott für immer verordnete Beschneidung ab und erlauben sogar, unreines Fleisch zu essen…
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