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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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wahrer Hühne.
    »Was meinst du, Bruder?«, wollte Ludolf wissen. Er versuchte, ruhig zu bleiben. »Wo ist was?«
    »Stell dich nicht dumm! Du hast es uns gestohlen! In der Nacht hast du es aus dem Schreibzimmer des Abts geraubt!«
    Ludolf wusste natürlich sofort, was sie suchten. Aber er zuckte nur die Schultern. »Heute Nacht war ich die ganze Zeit in meiner Zelle und habe tief und fest geschlafen. Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Bruder!«
    »Du hast bei deiner Ankunft danach gefragt. Du wolltest es unbedingt sehen, und du hast anderen Mönchen davon erzählt. Auch außerhalb des Klosters spricht man schon davon, dass es in diesen Mauern ein ketzerisches Evangelium gibt! Also, wo ist es?«
    »Bedaure! Ich wollte die Schrift sehen, das ist wahr, aber sie wurde mir bis heute vorenthalten. Der Abt wollte sie mir nicht zeigen. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie wirklich existiert, und wenn ja, ob sie sich auch tatsächlich in diesem Kloster befindet. Deshalb fragte ich so entschieden danach.«
    »Dies hier ist das Kloster des Barnabas! Wo sonst sollte sich eine Schrift dieses Mannes wohl befinden!«
    »Aber«, erwiderte Ludolf listig, »Ihr habt doch gerade das Gegenteil behauptet, nämlich, dass es nicht hier sei!«
    »Ja, weil du es gestohlen hast, du Lump!«, rief der Hüne. »Gib es heraus. Oder es ergeht dir wie dem Sakristan, diesem verräterischen Lumpenhund!«
    Ludolf wurde hellhörig. »Wie ist es denn dem Sakristan ergangen, mein Bruder?«
    »Das geht dich nichts an. Er ist eben verschwunden – er hat sich davongemacht.«
    Die anderen Mönche hörten auf, Ludolfs Sachen zu durchsuchen. In der Zelle war die Schrift jedenfalls nicht.
    »Trägst du sie etwa am Leib? Lass mal sehen!«
    Und so begannen die Mönche, den Pilger abzutasten, schließlich musste er seine Kutte ausziehen. Er stand in wollener Unterwäsche da, innerlich amüsiert, äußerlich empört.
    »Er hat es tatsächlich nicht!«
    »Das habe ich euch doch gesagt, Bruder Askenions!«
    »Das glaube ich dir nicht!«, rief Askenions. »Du hast es gestohlen, Pilger, und dann deinen Spießgesellen übergeben, ist es nicht so?«
    »Welchen Spießgesellen?«
    »Tu nicht so scheinheilig, Pilger! Wir bekommen es heraus!«
    »Fragt euren Sakristan, wo es geblieben ist!«
    »Den gibt’s nicht mehr, den kann man nichts mehr fragen.«
    »Xylophâgu!«, rief der blonde Hüne den Mönch zur Ordnung, der gesprochen hatte. »Halt das Maul!«
    »Nicht doch, mein Bruder«, tadelte Ludolf. »Ist eine solch grobe Sprache etwa der gewöhnliche Umgangston in diesem Kloster?«
    »Ach, halte auch du das Maul! Wir gehen! Durchsucht die anderen Zellen, jede Zelle! Lasst keine einzige aus!«
    Ludolf hörte, wie sie den Gang hinuntergingen und dann die Nachbarzellen betraten.
    »Durchsucht das ganze Kloster! Und fangt mit dem Gepäck der Fremden an!«
    Ja, dachte Ludolf, sucht nur. Ihr werdet es nicht finden. Uthman hat es. Und der gibt es nicht heraus. Ludolf war selbst begierig, das Evangelium endlich zu Gesicht zu bekommen. Mittags, wenn sie nach Enkomi ritten, würde es endlich so weit sein. Er konnte es kaum erwarten.
    Vom Gang hörte er Rufe: »Nichts! Nichts! Sie haben es nicht. Wo ist die verfluchte Schrift geblieben? Der Sakristan muss heimliche Helfer haben! Sie haben ihn geraubt! Durchsucht die Zellen aller Brüder! Es kann sich nicht in Luft aufgelöst haben!«
     
     
    Uthman hatte das Christentum schon immer für eine minderwertige Religion gehalten. Stand es so nicht im Koran? Sein Studium des neuen Evangeliums bestärkte ihn in dieser Überzeugung. Der Koran hatte Recht! Mohammed, der Gesandte Allahs, hatte Recht! Alle Muslime dieser Welt waren im Recht!
    Uthmans Finger fuhren über das Manuskript. Hin und wieder machte er sich Notizen.
    Henri würde staunen! Dieser Apostel Barnabas hatte die Wahrheit gekannt! Der Vertraute Jesu musste es wissen.
    Gleichzeitig fühlte Uthman Trauer. Er würde Henri Kummer bereiten müssen. Und er verstand Henri. Er konnte dessen Betrübnis nachempfinden. Würde es ihm nicht selbst so ergehen, wenn sich herausstellte, dass der Koran eine Fälschung war? Wenn sich eines Tages erweisen würde, dass alles ein gigantischer Schwindel von Kalifen gewesen war, die um Macht und Einfluss gerungen hatten? Wenn sie die Taten, das Leben und die Offenbarungen Mohammeds falsch nacherzählt hatten? Wenn Ali und Omar Lügner waren? Wenn Fatima, die eifersüchtige Tochter des Propheten, gar nicht gelebt hatte? Waren dann die vielen Opfer

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